Seelenband
Gedanken über sein Wohlergehen zu machen? Er dachte ja offensichtlich gar nicht an sie.
Dennoch war sie gespannt, ob er sich bei ihr melden würde, auch wenn sie das eigentümliche Gefühl hatte, dass er es nicht tun würde.
Sie hatte sich nicht geirrt.
Dafür hatte Christopher zweimal angerufen. Beide Male war sie nicht rangegangen, weil sie nicht genau wusste, was sie ihm sagen sollte. Er hatte ihr jedoch zweimal auf die Mailbox gesprochen und sie gebeten, sich bei ihm zu melden, wenn sie wieder am Platz war. Valerie seufzte. Spätestens morgen würde sie ihm eine Antwort geben müssen. Doch nicht heute. Sie griff nach dem Manuskript, das vor ihr lag, und begann zu lesen.
Sie schreckte hoch, als ihre Kollegin Sue leise an ihre Tür klopfte. "Schönen Feierabend", wünschte sie Valerie. "Ich gehe jetzt heim." Sie lächelte leicht. "Du solltest es auch bald tun."
Valerie nickte dankbar. "Ja, ich mach' auch gleich Schluss. Dir auch einen schönen Feierabend." Nachdem Sue gegangen war, blickte Valerie auf die Uhr. Sie war schon wieder länger geblieben, als sie eigentlich vorgehabt hatte.
Was soll's, dachte sie dann. Es ist ja nicht so, als würde jemand zu Hause auf mich warten. Sie fuhr ihren Computer runter und schnappte sich ihre Tasche, dann ging sie die Treppe hinunter. An der Abzweigung, die zur Manuskriptverwaltung führte, zögerte sie plötzlich. John hatte sich den ganzen Tag nicht bei ihr gemeldet.
Sein Problem, dachte sie und zuckte mit den Schultern. Und doch schaffte sie es nicht, einfach weiterzugehen. Es ist doch albern, schimpfte sie mit sich selbst, als sie in den Flur einbog. Er ist bestimmt schon längst nach Hause gegangen.
Auf dem Gang war es gespenstisch still, nur in einem Büro brannte noch Licht. Neugierig blickte Valerie hinein.
John saß da, die Hände so fest in seine Haare gekrallt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Seine Augen waren fest geschlossen und sein Gesicht verzerrt. Er sah grausig aus.
Valerie schnappte erschrocken nach Luft und John riss die Augen auf. Er sah sie verzweifelt an.
"Was ist los?" flüsterte sie und eilte zu ihm hinüber.
"Es muss hier doch irgendwo noch etwas zu tun geben!" stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ihr Blick fiel auf den riesigen Stapel Ausgangspost und sie fasste ihn sanft an der Schulter. "Das kann ich mir nicht vorstellen, John. Sie haben alles erledigt. Sie können jetzt ruhig nach Hause gehen."
"Nein!" schrie er und Valerie wich erschrocken einen Schritt zurück. Hätte er nicht so verzweifelt geklungen, wäre sie auf der Stelle weggerannt. Vielleicht kam er ja jetzt, der Ausbruch, auf den sie zu Beginn so gewartet hatte.
Er sah sie wieder an und sein Gesicht entspannte sich ein wenig. "Es tut mir leid, Valerie. Ich wollte Sie nicht erschrecken", sagte er heiser. "Aber ich kann jetzt nicht nach Hause gehen."
"Wieso nicht?" fragte sie etwas besänftigt, jedoch ohne sich ihm wieder zu nähern.
"Hier kann ich mich zumindest ablenken. Ich denke nicht, dass ich es zu Hause ertragen könnte."
"Was ertragen?" fragte Valerie. Sein Verhalten machte sie nun wirklich nervös.
"Sie haben Angst vor mir", stellte er ruhig fest. Es war keine Anklage darin zu hören.
"Ich bin besorgt", korrigierte sie ihn. "Vor Allem, weil ich Sie nicht verstehe."
"Natürlich nicht, wie könnten Sie auch." Er vergrub sein Gesicht wieder in den Händen.
"Dann sagen Sie mir endlich, was los ist!" verlangte sie ärgerlich zu wissen.
Er sah sie an, schien mit sich selbst zu ringen. Dann fielen seine Schultern ein Stück zusammen. "Heute ist unser Hochzeitstag", sagte er schließlich.
Valerie fragte sich, ob sie sich die Pause vor dem Wort
Hochzeitstag
nur eingebildet hatte. Dann trat sie wieder zu ihm und strich ihm über den Rücken. "Kommen Sie, ich bringe Sie jetzt nach Hause."
John nickte zögerlich. Er hatte es nicht so gewollt, aber er brauchte Valerie.
Sie hatte ein Taxi rufen wollen, aber John meinte, die frische Luft würde ihm gut tun. Eine Zeitlang gingen sie einfach schweigend nebeneinander her. Valerie hatte zunächst beschlossen, ihm ein wenig Ruhe zu gönnen. Dennoch war sie hin- und hergerissen, zwischen ihrer Neugier, dem Wunsch, ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken, und der Angst, schmerzliche Erinnerungen wachzurufen. Schließlich siegte ihre Neugier und sie fing mit einer unverfänglichen Frage an. "Wieso haben Sie sich für heute im
"Pablo"
krank gemeldet?" fragte sie ihn.
John warf ihr einen undefinierbaren Blick zu. "Weil ich
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