Seelenband
wirklich niemand in Frage kam: John. John würde ihre Bitte gewiss nicht als den Beginn einer Beziehung missverstehen. Andererseits konnte sie sich nach dem heutigen Abend einfach nicht vorstellen, dass ihm nach einem geselligen Abend unter jungen, glücklichen Menschen zumute war.
Valerie warf den Brief frustriert auf den Tisch. Die Grübelei brachte sie nicht weiter. Sie würde ihm die Situation erklären und ihn fragen, ob er sie begleiten würde. Und wenn nicht, würde sie einfach nicht hingehen.
Kapitel 5
Am nächsten Morgen blickte sie besorgt zur Eingangstür des
"Pablo"
, vor der John gewöhnlich auf sie wartete, und atmete erleichtert auf, als sie seine vertraute Gestalt erblickte.
"Wie geht es Ihnen?" fragte sie mitfühlend, als er ihr den obligatorischen Kaffeebecher reichte.
"Besser, danke", sagte er knapp, schenkte ihr aber ein scheues Lächeln.
Valerie stutzte. Sie hatte ihn noch nie aufrichtig lächeln sehen. Und tatsächlich schien es ihm recht gut zu gehen, wie sie feststellte, als sie ihm einen prüfenden Blick zuwarf. Er wirkte ruhig, sogar beinahe ausgeglichen, als hätte er in der letzten Nacht die Dämonen, die ihn innerlich zerfressen hatten, endlich nach draußen gelassen. Die Schatten auf seinem Gesicht waren kleiner geworden und sie hätte schwören können, dass auch seine Augen wieder eine Spur heller geworden waren.
Aber das war doch verrückt, oder? Vielleicht hatte sie sich ja einfach noch nie zuvor getraut, ihm wirklich tief in die Augen zu schauen.
"Es tut mir leid, dass Sie das gestern miterleben mussten", sagte John plötzlich. "Ich wollte Sie wirklich nicht damit belasten."
"Ist schon ok ...", hob Valerie an, doch er ließ sie nicht aussprechen.
"Das war der einzige Grund dafür, dass ich im Vorfeld nichts gesagt hatte, das müssen Sie mir glauben." Er blieb stehen und sah sie eindringlich an.
Überrascht hielt Valerie ebenfalls inne.
"Ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür, dass Sie gestern bei mir geblieben waren. Allein hätte ich es nicht geschafft."
"Aber jetzt geht es Ihnen doch besser?" hakte Valerie nach. "Ist es jetzt einfacher für Sie?"
Er nickte, doch sie konnte sich nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte. Der Kummer, der ihn gestern noch so gequält hatte, konnte doch nicht über Nacht verschwunden sein.
"Es ist schwer zu erklären", sagte John vorsichtig, wobei er eher auf ihre Gedanken als auf ihre Frage zu antworten schien. "Aber heute ist es tatsächlich einfacher für mich."
Valerie nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Das war schließlich alles, was zählte. Sie war kein Psychiater und kannte sich in den Verwicklungen der menschlichen Seele nicht besonders gut aus. Außerdem, wenn es ihm tatsächlich gut ging, konnte sie davon ja nur profitieren. Während sie schweigend neben ihm ging, versuchte sie, sich einen möglichst feinfühligen Weg vorzustellen, das Gespräch auf das bevorstehende Ehemaligen-Treffen zu lenken. Das war gar nicht so einfach.
Sie warf ihm wieder einen Seitenblick zu und merkte, dass er sie mit einem eigenartig intensiven Blick beobachtete. Verlegen wandte sie sich wieder ab.
"Irgendetwas beschäftigt Sie, Valerie." Wieder war es seine sanfte Stimme, die die Stille zwischen ihnen beiden brach. Er hatte sich wirklich verändert.
"Nun ja", stammelte sie. "Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das schon zumuten kann ... Ich meine, ich würde es verstehen, wenn Sie nicht wollen, aber ..."
Er sah sie geduldig an und wenn sie ihn nicht besser gekannt hätte, hätte sie schwören können, ein amüsiertes Glitzern in seinen warmen dunklen Augen zu sehen. "Worum geht es denn?"
Sie fasste sich ein Herz. Es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herum zu reden. "An meiner Uni findet ein Ehemaligen-Treffen statt und ich wollte fragen, ob Sie mich vielleicht als Freund dorthin begleiten würden." So, nun war es raus.
"Werden Sie allein nicht eingelassen?" fragte er erstaunt.
"Doch, natürlich." Sie stockte. "Es ist nur unüblich, alleine zu solchen Treffen zu gehen."
"Wieso?" Unverhohlene Neugier sprach aus seiner Stimme.
Valerie spürte, wie sie rot wurde. Musste sie es ihm wirklich auch noch erklären? "Wenn man allein kommt, wirkt das, als gäbe es niemanden, mit dem man besondere Augenblicke teilen kann, und das ist wirklich kein schönes Gefühl." Sie sah ihn an und fühlte sich auf einmal bloßgestellt und verletzlich. "Vergessen Sie es, es war eine blöde Idee", sagte sie hastig. "Ich werde nicht hingehen."
"Sie würden aber gern." Es war
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