Seelenband
meinen Verstand beschäftigt halten wollte, im Café wäre mir das nicht gelungen. Außerdem sind da zu viele Menschen, glückliche Menschen. Das hätte ich heute nicht ertragen können."
Valerie nickte, das war nachvollziehbar. "Und wieso haben Sie mir nichts gesagt?" stellte sie dann die Frage, die sie eigentlich beschäftigte. Sie hatte sich bemüht, ihre Stimme neutral zu halten, konnte eine anklagende Note aber dennoch nicht ganz vermeiden.
John blickte schuldbewusst drein. "Ich wollte Sie nicht auch noch damit belasten. Sie haben schon so viel für mich getan."
"Oh", sagte Valerie überrascht und sah ihn prüfend an. Er schien aufrichtig zu sein, aber sie hatte das Gefühl, das noch mehr hinter seinem eigenartigen Verhalten steckte.
"Da wären wir", sagte John plötzlich und wies auf eine verwitterte Metalltür in einem niedrigen Gebäude.
"Hier wohnen Sie?" fragte Valerie erschüttert.
John nickte. "Es ist günstig und es erfüllt seinen Zweck. Aber ich suche schon nach einer anderen Wohnung", fügte er rasch hinzu, als Valerie ihn noch immer ungläubig anstarrte.
Er blieb stehen und suchte nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Er hoffte so sehr, dass sie mit reinkommen, ihn nicht allein lassen würde. Aber er wusste, er hatte kein Recht, sie darum zu bitten. Nicht, während er um eine andere Frau trauerte. Valerie hatte Besseres verdient. Und doch brauchte er sie so dringend, besonders heute Abend.
"Danke, dass Sie mich begleitet haben", sagte er leise.
Valerie sah ihn verwirrt an. Sie war noch gar nicht
in
seiner Wohnung und hatte schon das Gefühl, rausgeschmissen zu werden. Sie hatte ihm doch nur helfen wollen. Verletzt wandte sie sich ab. "Gute Nacht, John."
John atmete frustriert aus. Musste sie immer alles missverstehen? Er meinte es doch nur gut mit ihr. "Valerie, warten Sie!" rief er ihr hinterher.
Sie blieb stehen und sah ihn abwartend an.
"Wollen Sie vielleicht eine Tasse Tee? Kaffee habe ich leider keinen."
"Ok." Sie kam misstrauisch näher.
"Und wenn ich ehrlich bin, würde ich mich sehr über Ihre Gesellschaft freuen. Ich könnte es nicht ertragen, jetzt allein zu sein."
"Gut." Sie nickte. "Ich bleibe gern ein wenig bei Ihnen."
"Danke." Er öffnete die Tür und ließ sie eintreten.
Neugierig sah Valerie sich in dem düsteren Raum um. Durch die Fenster fiel trübes Licht in das Zimmer. Sie sah eine Kochzeile, einen kleinen Tisch, einen Hocker, eine Matratze und einen alten Kleiderschrank in der Ecke des Raumes. An den Wänden hatte John ein paar kleine Regale angebracht, die jedoch kaum persönliche Gegenstände enthielten.
"Ich weiß, es ist nicht viel, aber mir genügt es", sagte er entschuldigend.
"Es ist sehr ... zweckmäßig", stimmte Valerie ihm vorsichtig zu.
"Hier, setzen Sie sich." Er schob ihr den Hocker hin und warf ein kleines Kissen darauf. Er selbst ging zu der Küchenzeile hinüber und stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd. "Der Tee ist gleich fertig. Mögen Sie grünen?"
"Grüner Tee ist fein", erwiderte Valerie unsicher.
Kurze Zeit später reichte er ihr die dampfende Tasse herüber. Als sie sie entgegen nahm, blickte er ihr ernst in die Augen. "Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Valerie, für das, was Sie heute für mich tun."
"Ach, nun ja", sie lächelte verlegen. "Dafür sind Freunde doch da."
"Freunde", wiederholte John nachdenklich. Es schien ihm zu gefallen. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Matratze und nippte an seinem Tee.
Die Stille war fast körperlich greifbar und drückte Valerie unangenehm auf die Ohren. Sie wollte nicht ungehörig neugierig erscheinen, aber sich anzuschweigen kam ihr auch irgendwie blöd vor. "Sie haben hier ja gar keine Bilder von Ihrer Familie", sagte sie daher.
Johns Kopf fuhr ruckartig hoch. Als sie den Schmerz in seinen Augen sah, wünschte sie sich, sie hätte doch lieber geschwiegen. "Es tut mit leid, wenn ich ..." Unsicher brach sie ab.
"Nein, schon gut. Ich konnte bei meiner Fl...", er stockte kurz, bevor er schnell weitersprach, "... Abreise kaum etwas mitnehmen, das ging alles so schnell."
"Das muss sehr traurig für Sie sein", sagte Valerie mitfühlend.
"Ist schon gut. Ein Abbild könnte niemals so echt sein wie das Bild, das ich von ihr hier drin trage." Bei diesen Worten kreuzte er auf eigentümliche Weise seine Handgelenke und drückte sie gegen seine Körpermitte. Die Geste musste ganz unbewusst gewesen sein, denn als er Valeries verwunderten Blick bemerkte, strich er sich mit einer hastigen Bewegung über die
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