Seelenband
lange die Fahrt dauern würde. Mit dem Auto brauchte sie höchstens acht Stunden, mit dem Zug würden sie die Nacht und den nächsten Tag durchfahren und erst am Abend ankommen.
Das brachte Valerie auf den Gedanken, dass ihre Eltern ja noch gar nichts von ihrem Besuch wussten, und sie fragte sich, was sie ihnen erzählen sollte.
Hi Ma, hi Pa, ich habe mich in einem Mann verliebt, er ist Ausländer und hat auch schon eine Tochter. Und übrigens, wir haben unseren Besuch nicht angekündigt, weil wir auf der Flucht sind.
Valerie schüttelte unwillig den Kopf. Sie sollte sich etwas Besseres einfallen lassen. Einerseits wollte sie ihre Eltern nicht beunruhigen, gleichzeitig wollte sie sie aber auch nicht anlügen.
Sie holte ihr Handy hervor und suchte die Nummer ihrer Eltern heraus. Dann stockte sie plötzlich. Konnten Johns Verfolger ihr Handy anzapfen? Sie wusste es nicht, wollte aber kein Risiko eingehen. Sie schaute sich suchend nach einem öffentlichen Telefon um. Da sie keins sehen konnte, ging sie rasch die Bahnhofshalle ab. Sie hatte Glück. In einer dunklen Ecke stand tatsächlich noch ein Apparat. Das Telefon hatte definitiv schon bessere Tage gesehen, aber es funktionierte und nahm sogar Münzen an.
Rasch kramte Valerie in ihrer Geldbörse, dann warf sie eine Münze ein und wählte die Nummer ihrer Eltern. Sie ließ es lange klingeln, in der Hoffnung, dass ihre Eltern das Telefon wieder einmal verlegt hatten und nun danach suchten, doch schließlich ging bloß der Anrufbeantworter ran. Valerie legte auf. Sie wollte etwas so Heikles nicht mit einer Maschine besprechen.
Dann ging sie wieder zur großen Anzeigetafel herüber, an der sie sich mit John hatte treffen wollen. Ungeduldig hielt sie nach ihm Ausschau. Obwohl es noch viel zu früh war, beschlich Valerie wieder ein ungutes Gefühl. Sie können doch nicht wirklich so lange brauchen, immerhin war sie auch viel schneller da gewesen. Als sie ihre Unruhe kaum noch unterdrücken konnte und sich dabei ertappt hatte, dass sie jedem Mann und jedem Kind hoffnungsvoll ins Gesicht sah, beschloss Valerie, schon mal die Fahrkarten für sie zu besorgen. Sie warf einen letzten, unsicheren Blick auf die Anzeigetafel und ging zum Fahrkartenschalter herüber.
Als sie die lange Schlange sah, stöhnte sie innerlich auf, stellte sich aber dennoch an. Während sie langsam vorwärts ging, schaute Valerie immer wieder besorgt auf ihre Uhr. John und Nalla müssten schon bald eintreffen, vielleicht waren sie jetzt bereits da. Wenn sie sie nicht antrafen, würden sie sich Sorgen machen, sie vielleicht suchen gehen. Valeries größte Angst war, dass sie sich irgendwie verpassten. Na gut, die zweitgrößte. Die größte Angst war noch immer, dass die Verfolger sie schon gefunden hatten und dass sie die beiden nie wieder sehen würde. Entschieden drängte sie diese Gedanken beiseite. Das wäre zu schrecklich und außerdem würde das nicht geschehen.
Endlich war sie an der Reihe und kaufte schnell die Fahrkarten für zwei Erwachsene und ein Kind. Zum Glück hatte sie noch genug Bargeld dabei, denn auch hier hatte sie sich gerade noch rechtzeitig daran erinnert, nicht ihre Kreditkarte zu benutzen.
Sobald sie die Karten hatte, eilte sie zurück zur Anzeigetafel. Sie waren noch immer nicht da. Valerie blickte auf die Uhr. Die zwei Stunden waren seit fünf Minuten um. Hektisch blickte sie sich um. In jedem Mann, der durch die Tür in die Bahnhofshalle kam, sah sie John, in jedem Kind Nalla. Weitere zehn Minuten später konnte sie ihre Unruhe kaum noch beherrschen. Sie hatte das Bedürfnis, hinauszugehen, sie zu suchen, irgendetwas zu tun, und hatte gleichzeitig Angst, ihren Posten zu verlassen. Ihr Blick wanderte zu zwei Polizeibeamten herüber, die an eine Wand gelehnt die Bahnhofshalle im Auge behielten. Vielleicht sollte sie zu ihnen gehen und einen Mann und ein Kind als vermisst melden. Natürlich wusste sie, dass es nichts bringen würde. Wenn jemand sich um zwanzig Minuten verspätete, war das noch lange kein Grund für eine Suchaktion der Polizei. Dennoch hätte sie dann irgendetwas getan und hätte nicht das Gefühl, vor Untätigkeit verrückt zu werden.
Plötzlich fiel ihr ein, dass John ein Handy hatte und dass sie ihn anrufen könnte. Sie haderte kurz mit sich selbst, ob sie zur Telefonzelle gehen oder lieber am Treffpunkt bleiben und einen Anruf mit ihrem Handy riskieren sollte. Schließlich lief sie zur Telefonzelle herüber. Valerie hatte keine Ahnung, ob sie sich mit ihrem
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