Seelenband
Verhalten eigentlich lächerlich machte, und es war ihr auch egal. Immerhin stammte ihr ganzes Wissen über Notsituationen aus irgendwelchen Kinofilmen und sie hatte nie damit gerechnet, dass es irgendwann tatsächlich für ihr Leben relevant sein könnte.
Sie warf eine Münze in den Telefonapparat ein und tippte rasch Johns Nummer von dem Display ihres Handys ab. Das Telefon wählte, doch statt eines Freizeichens setzte sie eine Frauenstimme davon in Kenntnis, dass der gewünschte Gesprächspartner im Augenblick nicht erreichbar war. Valerie fluchte, John hatte sein Handy ausgeschaltet. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie hoffte sehr, dass den beiden nichts passiert war. Doch wenn alles in Ordnung war, hätte John sie doch zumindest anrufen können, ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Sie hielt diese Unsicherheit einfach nicht mehr aus.
Resigniert legte Valerie den Hörer auf und tastete nach der Münze, die in den Ausgabeschacht des Telefons fiel. Plötzlich spürte sie, dass sie beobachtet wurde, und drehte sich langsam um.
John und Nalla standen nur wenige Schritte hinter ihr.
Valerie schluchzte vor Erleichterung auf und warf sich John an den Hals.
Er drückte sie fest an sich und streichelte ihr beruhigend über den Rücken. "Es ist alles gut,
Pei Thara
. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen."
"Wo wart ihr?" fragte Valerie vorwurfsvoll und besorgt zugleich.
"Ausgerechnet unser Bus hatte eine Panne", erklärte John.
"Du hättest anrufen können."
Er schüttelte den Kopf. "Ich hielt das nicht für ratsam."
"Woher wusstet ihr, dass ich hier bin? Wieso habt ihr nicht an der Anzeigetafel gewartet?"
"Ich weiß immer, wo du bist,
Ethkeya
", sagte John sanft. "Und es tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast."
Valerie nickte. Irgendwie fand sie es ungemein tröstlich, dass er sie immer spüren konnte. Sie wünschte sich nur, es wäre auch umgekehrt möglich. "Wir sollten gleich los", sagte sie dann. "Der nächste Zug fährt in einer Viertelstunde ab."
"Gehen wir", stimmte John ihr zu.
Dann fiel Valerie noch etwas ein. "Warte, ich will versuchen, meine Eltern zu erreichen." Doch auch dieses Mal hatte sie wenig Glück. Anscheinend waren ihre Eltern nicht zu Hause.
"Keiner da", sagte Valerie zu John und legte den Hörer wieder auf.
"Können wir dennoch kommen?" fragte John besorgt.
"Aber sicher doch. Sie werden sich über die Überraschung bestimmt freuen." Außerdem hatte sie nun mehr Zeit, darüber nachzudenken, was sie ihren Eltern eigentlich erzählen sollte.
Am Abend des nächsten Tages stand Valerie vor dem dunklen und abgeschlossenen Haus ihrer Eltern.
"Wollen Sie wieder zurück fahren?" fragte der Taxifahrer, der Valerie, John und Nalla vom Bahnhof zum Haus gebracht hatte, als er Valeries Überraschung angesichts des leeren Hauses bemerkte.
"Nein, danke", erwiderte sie knapp.
Der Mann zuckte mit den Schultern, stieg wieder in sein Fahrzeug und fuhr davon.
"Und nun?" fragte John und trat neben Valerie.
"Lass uns erst einmal rein gehen." Sie gab sich viel selbstsicherer, als sie war. Sie wusste, dass ihre Eltern den Hausschlüssel für Notfälle irgendwo versteckten, und hoffte, dass sie es auch dieses Mal getan hatten. Während sie die üblichen Verstecke - den Blumenkasten, den Türrahmen und einen losen Stein im Mauerwerk - absuchte, verfluchte sie sich dafür, dass sie in der Eile des Aufbruchs ihren eigenen Schlüssel zum Haus ihrer Eltern vergessen hatte. Sie hatte ihn schon so lange nicht mehr benutzt, dass sie gar nicht daran gedacht hatte, ihn mitzunehmen. Außerdem war sie davon ausgegangen, ihre Eltern würden zu Hause sein. Nun sah es aber so aus, als wären sie verreist, denn im Briefkasten lagen mehrere Tageszeitungen.
"Hast du nicht gewusst, dass deine Eltern wegfahren wollten?" fragte John neugierig, während er ihr beim Suchen half.
"Ich weiß nicht", sagte Valerie unsicher. Es war möglich, dass sie es mal erwähnt hatten, aber sie war in letzter Zeit zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen. Und falls sie nur ein paar Tage spontan verreist waren, war es durchaus möglich, dass sie es ihr gar nicht erzählt hatten.
"Ich glaube, ich habe hier was", sagte John plötzlich und hob einen umgedrehten Tonkrug aus einem Beet hoch. Darunter lag ein Schlüssel.
"Das ist er!" rief Valerie erfreut und John reichte ihn ihr herüber.
Sie schloss die Tür auf und sie gingen hinein.
Sie war schon seit fast einem Jahr nicht mehr im Haus ihrer Eltern gewesen. Es hatte
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