Seelenbrand (German Edition)
einen Besuch auf dem Friedhof«, sie setzte sich zu ihm an den Tisch und goß den Kaffee ein, »wenn jemand die Grabplatte wegschiebt und den Sarg öffnet?«
»Sind Sie sicher, daß der Tote im Sarg wirklich der alte Abbé war ... oder das, was noch von ihm übrig ist?«
Marie wollte sich gerade eine Gabel von den gebratenen Eiern zum geöffneten Mund führen, als sie plötzlich innehielt und das Essen wieder auf den Teller zurückknallte. »Vielen Dank!« Angewidert wandte sie sich ab. »Sie haben mir gerade dauerhaft den Appetit auf gebratene Eier verdorben, wissen Siedas?« zischte sie und stocherte angeekelt in ihrem Essen herum.
»Ich habe doch nur gefragt, ob Sie ihn auch wirklich erkannt haben ... und wenn Sie Ihre Eier nicht mehr mögen ...«, er nahm sich eine Gabel voll von ihrem Teller, »... dann könnte ich sie doch essen.«
»Das würde Ihnen so passen!« Trotzig schaufelte sie sich das Gebratene in den Mund. »Wollen Sie Ihre Haushälterin jetzt etwa auch noch verhungern lassen ... wo ich mir von der Putzerei sogar schon Blasen geholt habe? Da!« Wehleidig hielt sie ihm ihre Hand vor die Nase.
»Also!« drängelte Pierre. »Haben Sie ihn nun erkannt, oder nicht?«
»Jaaa!« Gereizt sah sie ihn an. »Könnten wir jetzt vielleicht endlich wieder über etwas anderes reden?«
»Guten Morgen!« sagte eine freundliche Stimme hinter ihnen.
»Morgen, Jacques!« kam es im Chor zurück. »Setzen Sie sich zu uns.« Pierre zeigte auf den freien Stuhl. »Mademoiselle Darmon, meine fleißige Haushälterin, hat uns gerade ein phantastisches Frühstück zubereitet.«
»Hallo, Marie!« Der Totengräber winkte ihr kurz zu und setzte sich. »Na, was macht deine Malerei?« Pierre mußte seinen Gast wohl derartig entgeistert angesehen haben, daß der sich sofort zu einer Erklärung genötigt sah. »Ich kenne unsere kleine Marie schon seit zwanzig Jahren!«
»Ja, seit dem Tag, an dem ich mit Tante Pauline nach Rennes gekommen bin.«
Der Totengräber stöhnte und hielt sich seinen Kopf. »Sind Sie sicher, daß Sie mir nicht doch einen mit der Schaufel übergezogen haben?«
»Wenn ich’s Ihnen doch sage ... ich verabscheue Gewalt.« Lüge! » Aber was Ihren Kopf angeht ... da kann ich Sie beruhigen. Die Schmerzen sind nur die himmlische Strafe dafür, daß Sie mir meine gesamte Medizin leergetrunken haben!«
»Meinen Sie etwa die ...«, der Totengräber blinzelte ihm zu, »... die so widerlich nach Cognac geschmeckt hat?«
Sie lachten, und Pierre klopfte ihm versöhnlich auf den Arm. »Aber, wie ich sehe, haben Sie trotz dieser schmerzhaften Nebenwirkungenmeiner Arznei das Rasierzeug und die frischen Sachen gefunden.«
Der Totengräber blickte zufrieden an sich herunter. »Ich danke Ihnen. Jetzt sehe ich endlich wieder aus wie ein Mensch.«
»Schon gut.« Pierre schaufelte ihrem Gast reichlich von den Eiern auf den Teller und goß ihm Kaffee ein.
»Hm? Kann es sein ... daß wir uns schon von irgendwoher kennen?« fragte der Totengräber langsam und kaute nachdenklich auf einem Stück Brot.
»Ja, natürlich! Ich habe Sie gestern auf meinem Friedhof ein wenig unsanft in den Schwitzkasten genommen, als Sie den alten Abbé ... besuchen wollten.«
Marie ließ ihre volle Gabel vor dem Mund stoppen und legte sie wieder zurück auf den Teller, ohne einen Bissen genommen zu haben.
»Nein, ich meine ... ob wir uns nicht früher schon mal über den Weg gelaufen sind?« bohrte ihr Gast halsstarrig weiter.
Pierre hielt es nicht für klug, seinen Gegenüber jetzt an die Rauferei im Gefängnis zu erinnern. »Nein. Ich wüßte nicht wo?« murmelte er schließlich beiläufig mit vollem Mund und angelte nach seiner Tasse. »Dann helfen Sie also den Leuten hier schon seit zwanzig Jahren unter die Erde?« Er zog es vor, erst einmal mit lockerer Konversation fortzufahren, um sich ein Bild vom augenblicklichen Geisteszustand des Totengräbers zu machen.
»Genaugenommen mache ich das schon mein ganzes Leben. Ich hab’ das Geschäft von meinem Vater übernommen.«
Pierre beobachtete seinen Gast ständig von der Seite und war jederzeit auf eine von dessen Irrsinnsattacken gefaßt. Der aber blieb völlig ruhig und zivilisiert und aß – sogar mit ordentlichen Manieren – brav sein Frühstück.
»Ich mußte ihn einfach sehen!« Jacques legte unvermittelt seine Gabel nieder. »Ich mußte mit eigenen Augen sehen, daß er wirklich noch da unten im Grab liegt.«
Marie schob ihren halbvollen Teller zur Seite und warf die Gabel
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