Seelenbrand (German Edition)
hatte mit dem Blättern aufgehört.
»Ich habe mich immer schon gefragt, warum so viel über seine Leiden berichtet wird, ›... gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben ...‹, und dann, bei ›. .. herabgestiegen in das Reich des Todes ...‹, hört es plötzlich auf.« Er stand auf und ging zum Fenster. »Als sie Jesus also nun gekreuzigt hatten, kam der Satan, der Erbe der Finsternis in die Unterwelt und sprach zum Wächter des Totenreichs, einem gewissen Hades.« Er sah zu Marie hinüber.
»Wir haben ja schon gehört, daß der Teufel eine große Zahl von Helfern hatte.«
»Das hat er diesem frechen Bartholomäus doch selbst gesagt, oder?« fragte sie mit erhobener Nase, die wohl bedeuten sollte, daß sie durchaus folgen konnte.
»Der Teufel sagte also sinngemäß: ›Einer aus dem Geschlecht der Juden, Jesus heißt er – er nennt sich selbst Gottes Sohn –, ist aber nur ein Mensch, den die Juden ... dank unserer Mitwirkung gekreuzigt haben. Und jetzt, wo er gestorben ist, halte dich bereit ... daß wir ihn hier in Verwahrung nehmen! Denn ich weiß, daß er auch nur ein ... Mensch ist. Er hat mir in der oberen Welt viel Böses zugefügt, als er mit den Sterblichen zusammen wandelte. Wo er meine Knechte antraf, da hat er sie verfolgt ... und wie viele Menschen ich auch verkrüppeln, blind, lahm oder aussätzig werden ließ ... er hat sie allein durch das Wort gesund gemacht. Viele hatte ich sogar schon für das Begräbnis hergerichtet ... und er hat sie durch das Wort allein wieder lebendig gemacht!‹« Er blickte zum Tisch herüber. »Der Satan war also ganz schön in Rage!«
»Und wie geht’s weiter?« Marie rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.
»Ja ...«, Pierre rieb sich bedächtig am Ohr, »... und deshalb hat es der Komplize des Teufels da unten, dieser Gott, oder Wächter der Unterwelt – auf jeden Fall auch ein ehemaliger Engel – schon mit der Angst zu tun bekommen! ›Wenn dieser Jesus so stark ist, wie du glaubst ...‹, fragte der nun besorgt seinen Chef«, Pierre führte die Geschichte jetzt weiter, »›... wie kannst du ihm dann Widerstand leisten? Wenn du sagst, du hättest gehört ... daß sich dieser Jesus vor dem Tode gefürchtet habe ... so hat er das sicher nur gesagt ... um dich zu narren, und im Scherz ... in der Absicht, dich um so leichter mit starker Hand zu packen. Wehe, wehe dir Satan!‹«
Gebannt lauschte Marie seinen Worten. »Und das steht wirklich alles in diesem Evangelium des Nikodemus?«
»Ja, aber warte ... ich bin gleich wieder da!« Pierre rannte aus der Küche und sie hörten ihn die hölzerne Treppe zum oberen Geschoß hinaufpoltern. Dann war es plötzlich still, bis das erneute Lärmen auf den Stufen seine hastige Rückkehr ankündigte.
»Hier!« Er knallte das riesige, abgewetzte Buch auf den Küchentisch und schlug es auf. »Mal sehen ...«, murmelte er und blätterte. »Niko... Niko... Nikodemus ... ah, da haben wir ihn!« Er hielt seinen Finger unter eine Textzeile und schob es Marie unter die Nase.
»Dieses riesige Buch hattest du in deinem Koffer?« Verblüfft sah sie zu ihm hoch. »Dann hatten deine anderen Sachen doch gar keinen Platz mehr?«
»Mehr als das ...«, er tippte auf die Buchseite, »braucht ein Pfarrer nicht, wenn er es wirklich ernst mit sich und seinen Schafen meint.«
»Wie ich sehe«, Severin erhob sich leicht von seinem Stuhl, um sich kurz über den Tisch zu beugen und einen Blick auf dasaufgeschlagene Werk zu werfen, »hast du dir die übersetzte Fassung besorgt.«
»Hebräisch, Griechisch oder Latein sind nicht gerade meine Stärken«, entschuldigte sich Pierre bei seinem weisen Gegenüber.
»Hier steht’s!« rief Marie dazwischen. »Da sagte Satan: ›Du allesfressender und unersättlicher Hades! Hast du solche Angst bekommen, als du von unserem gemeinsamen Feind gehört hast? Ich habe keine Angst vor ihm gehabt ... sondern habe die Juden dahingebracht ... und sie haben ihn gekreuzigt und ... sie haben ihm sogar Essig mit Galle zu trinken gegeben. Mach dich also bereit, ihn, wenn er kommt ... kräftig festzuhalten.‹« Sie sah auf. »Das gibt’s doch gar nicht! So etwas habe ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«
»Lies nur weiter, meine Liebe«, ermunterte sie der Kräuterbruder, »denn nicht jedem ist es vergönnt seine Nase in solche Dinge zu stecken!«
»Warum?« fragte sie erstaunt zurück. »Hält die Kirche sie etwa unter Verschluß?«
»Nein!« Pierre setzte sich wieder
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