Seelenbrand (German Edition)
unvoreingenommen ansiehst ... und immer, wenn etwas Schreckliches passiert ... etwas so Schreckliches ... daß es dir den Glauben an das Gute raubt ... beispielsweise eine Kette von Schicksalsschlägen ... wenn ... Eltern plötzlich sterben, und ihre kleinen Kinder in Waisenhäusern enden ... und wenn diese dann ... samt den unschuldigen und zurückgelassenen Kleinen in Flammen aufgehen ...«, er seufzte herzzerreißend, »... es gibt so viel Trauriges in der Welt... dann ... und genau dann ... wenn du dir heimlich die Frage stellst ... wie Gott das alles nur zulassen kann ... dann denke an meine Geschichte ... vom Sturz der Engel in die Hölle ... und ihrem langen ... langen Weg zurück in die sieben Himmel!«
Schweigen.
»Wie konnte Gott das zulassen? ... Denk an mich ... wenn du dir diese eine Frage stellst! Versprichst du mir das?«
Argwöhnisch beäugte Marie den Kräuterbruder von der Seite. »Das ist alles? Mehr nicht?«
»Nein! Mehr brauchst du nicht zu tun. Sieh genau hin ... und das ganze Bild wird sich dir von selbst offenbaren ... und alle Erklärungen ... sie werden immer in dieselbe Richtung weisen ... zu mir!« Ihm floß eine Träne über die Wange, als er ihre zarte Hand drückte. »Mein Engel!«
16
»Was ist das für ein Tumult da draußen?« Pierre stand auf und ging zum offenen Fenster. »Es kommt irgendwo von der Straße. Von hier kann ich allerdings nichts sehen.« Er eilte aus der Pfarrküche in den Flur, steckte dann aber noch mal seinen Kopf durch die Tür. »Mach unserem Gast bitte einen Baldriantee, ich bin gleich wieder da!«
Während er über den Pfarrhof hastete und den steinernen Bogen zur Straße durchquerte, schwoll das Stimmengewirr an und entlud sich in einigen wüsten Schimpfereien, die bis zu ihm herüberdrangen. Er blieb stehen und sah die Straße hinunter. Ganz vorn, am Anfang des Dorfes – in Höhe der Schenke und Maries Atelier – hatte sich eine große Menschentraube gebildet. Bei Bruder Severins Enthüllungen – über die wahre Natur des irdischen Lebens – hatte er die Zeit völlig vergessen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Er griff sich in die Tasche, um einen Blick auf seine Uhr zu werfen, als er bemerkte, daß er immer noch in Zivil war – in seiner Schweinezüchterhose, wie Marie gelästert hatte –, und seine Taschenuhr befand sich in der Soutane. Naja, egal! Als er auf die erregte Menge zulief, knöpfte er sich trotzdem erst einmal sein Hemd zu ... und Socken hatte er auch keine an. Hoffentlich ist der alte Zacharias nicht in der Nähe! Er sah das Automobil schon von weitem blitzen und funkeln. Sie hatten es direkt vor der Schenke geparkt, dort, wo er den netten Fahrer Louis untergebracht hatte.
Den dicken Riesen da hinten kenn’ ich doch? » Hallo Iwan!« Pierre reichte dem Gendarmen die Hand. Der trug übrigens wieder seine rote Zirkusuniform mit dem goldenen Lametta auf den Schultern.
»Hallo Abbé! Sieht so aus, als hätten wir Sie gerade erst aus dem Bett geworfen?«
»Nein, nein.« Pierre sah sich die Menschenmenge an, und das glatzköpfige Walroß kreuzte wieder seine Arme vor der Brust, um sich das Spektakel aus der hintersten Reihe in aller Ruhe anzusehen.
»Was ist hier eigentlich los?« Da es bei der Drängelei ohnehinkein Durchkommen gab, blickte er sich ratlos um und stieg schließlich auf die hüfthohe Gartenmauer hinter sich.
»Das ist ein richtiger Affenzirkus hier!« Der dicke Gendarm zwirbelte an seinem mächtigen Schnurrbart herum.
Dort vorne im Gewühl, unmittelbar am Eingang der Schenke – der Rolls-Royce behinderte ein wenig den Blick auf die ganze Szenerie –, erkannte er Rodrigues und Pater Zacharias, der eine lange Stange in den Händen hielt, an deren oberstem, himmelwärts gerichtetem Ende ein Kruzifix angebracht worden war. Und da ... was ist denn das? Meßdiener? Eins, zwei ... und dahinten waren noch zwei in ihren weißen Gewändern ... aber ... er hatte doch eigentlich keinen einzigen von denen in der Gemeinde? Er hielt seine Nase in die Luft und schnüffelte. Und Weihrauch haben sie auch noch mitgebracht. Da er wegen des aufgeregten Geredes der Menge kein Wort von dem verstehen konnte, was Zacharias und seine Gehilfen dort hinten veranstalteten, tippte er dem Gendarmen, der vor ihm stand, und in dessen polierter Glatze er sich von hier oben spiegeln konnte, von hinten an die Schulter. »Wissen Sie, was hier los ist?«
Das Walroß drehte sich um, seine Arme immer noch seelenruhig vor der Brust verschränkt.
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