Seelenbrand (German Edition)
die Schlacht der Engel wurde eben – je nach Kulturkreis – anders ausgeschmückt.«
»Was ist denn mit der anderen Figur hier?« Sie deutete auf die zweite Statue, die er von der anderen Seite der Halle mitgebracht hatte. »Vielleicht erzählt sie uns noch mehr!«
»Hm? Mal sehen ... hier steht ...«, er hielt den kleinen Sockel vor seine Augen.
»Das ist ein Hethiter!« Marie nahm die Figur an sich. »Hier der typische Kopfschmuck ... und dort die eindeutigen Verzierungen.« Sie gab ihm die Figur zurück. »Kein Zweifel!«
»Aha?« Er seufzte und sah sie an.
»Das gehört zum Grundwissen der Archäologie!« Tröstend klopfte sie ihm auf den Arm. »Das Studium war also doch nicht ganz für die Katz!«
»Hethiter?« er dachte nach. »Muß man schon von denen gehört haben?«
»Sie werden in der Bibel erwähnt. Aber, wenn du sie als Priester nicht kennst, ist das nicht so schlimm ... aber für einen Archäologen wäre es eine Schande.«
Er hatte das kleine Fach bereits geöffnet und das Papier entrollt.
»Diese Hethiter lebten übrigens schon lange vor der Entstehung dieser griechischen Sagen über Zeus und die Titanen im Mittelmeerraum. Sie sind also noch wesentlich älter, und da hat noch niemand an unser Christentum gedacht. Aber«, sie klopfte ihm wieder tröstend auf den Arm, »was sie uns über die Schlacht der Götter zu berichten haben, das weiß ich auch nicht!«
Gott sei Dank! Sonst wäre ich aber auch vor Scham im Boden versunken.
»Ist mir ein Rätsel«, er holte tief Luft, um mit dem Lesen zu beginnen, »wie es der Alte geschafft hat, diese vielen einzelnen Teile in der Weltgeschichte zusammenzusuchen!«
Sie sahen sich nochmals im Rund der Halle um. »Ja«, Marie war ergriffen, »es ist wirklich phantastisch!« Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Und alles ruhte so viele Jahre unter unseren Füßen!«
»Also ...«, er räusperte sich. »Hier steht: ›Über die Herrschaftim Himmel ... Mögen alle Götter hören, die, die im Himmel sind, und die auf der dunkelfarbigen Erde ... Vor Ewigkeiten herrschte König Alalu im Himmel und saß auf dem höchsten Thron ... Anu, der mächtigste und der Erste unter seinen Göttern stand gebeugt vor ihm ... im neunten Zeitraum forderte Anu den Höchsten heraus ... und besiegte ihn. Der Allmächtige floh vor seinem Bezwinger und stieg hinab auf die dunkelfarbige Erde ... aber der Thron währte nicht lange ... Kumarbi, Sohn des Siegers, stürzte seinen eigenen Vater ...‹«
»Die Ähnlichkeit mit der griechischen Legende über Zeus und die Titanen ist unübersehbar. Auch hier war es offensichtlich der Sohn, der seinen eigenen Vater stürzen wollte.«
»Und es gelang ihm auch«, ergänzte Pierre. »Und wieder gab es eine Schlacht, deren Verlierer auf die Erde hinabstieg.«
»Genau wie bei Luzifer!« sagte sie leise und nickte nachdenklich. »Das wäre ja schrecklich, wenn unser Severin tatsächlich recht hätte! Bisher hatte ich immer noch die Hoffnung, daß es keine Belege für seine wirre Geschichte gäbe ...«
»Besonders erschreckt hat mich genau aus diesem Grund die Erzählung von diesen ... Maori aus der Südsee«, gab Pierre zu. »Wenn es bei denen ... da hinten am Ende der Welt ... eine Legende über eine Rebellion und einen Kampf im Himmel gibt, in deren Verlauf die Aufständischen schließlich auf die Erde geworfen wurden, um dort in immerwährendem Kampf zu leben ... wie soll man das erklären?«
»Vielleicht braucht man es ja gar nicht zu erklären ...«, sie stockte, »... weil es wahr ist?«
Eine lange Pause folgte.
»Vielleicht sind wir hier ja wirklich in der Hölle! Zusammen mit dem Teufel und seinen Helfern! Die Geschichten mögen ja variieren ... aber der Kern ... der ist doch immer derselbe.«
Mit gesenktem Kopf war sie einige Schritte weitergegangen und vor einer anderen, beliebigen Nische stehengeblieben. »Sieh dir das an!« Aufgeregt holte sie die Figur heraus. »Das ist Schiwa, der Gnädige!« Zärtlich strich sie über das seltsame Ding. »Eine der Hauptgottheiten des Hinduismus!« Langsam kam sie mit der Statue zu Pierre zurück, ohne ihren Blick davon ablassen zu können. »Er tanzt!«
Pierre hielt den Mund, um sich nicht zu blamieren.
»Wischnu, Brahma und er bilden die Dreiheit der Götter.«
Pierre suchte nach einem Stuhl, oder einer Ecke, hinter der er sich verkriechen konnte. Fehlanzeige! Gütiger Himmel, ich brauch’ noch mindestens ... hundert Jahre, um mit ihr wissensmäßig gleichziehen zu
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