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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Schock?«, fragte Zacharias. Das Wort gefiel ihm nicht. Es erfüllte ihn mit Unbehagen.
    Ja. Es wird wehtun, aber das lässt sich leider nicht vermeiden. Der Schock sollte dazu führen, dass du dich wieder an alles erinnerst. Bist du bereit?
    Zacharias stand auf. »Nein.«
    Tut mir leid, mein Junge, aber es muss sein. Hindere Penelope daran, die Kontrolle zu übernehmen. Mit allen Mitteln, verstanden?
    Zacharias wollte sich vom Tisch abwenden, musste aber feststellen, dass er sich plötzlich nicht mehr bewegen konnte.
    Ich bringe dich zu ihr, aber dadurch verrate ich meinen Standort. Wenn du nichts gegen sie unternimmst, wird sie mich angreifen und resetten wie die anderen. Ich bin das letzte Bollwerk in Lassonde, und nicht nur dort. Ich hoffe, das ist dir klar.
    »Ich möchte hierbleiben«, sagte Zacharias.
    Sehr heldenhafte Worte, Kompliment , antwortete der Tisch. Manchmal – eigentlich sogar ziemlich oft, wenn man genauer darüber nachdenkt – spielt es keine Rolle, was wir möchten. Manchmal müssen wir tun, was getan werden muss.
    Der Tisch verschwand, und mit ihm die Hütte, das Gras, der Hügel, auch die endlose Wüste. Schmerz explodierte hinter Zacharias’ Augen.

39
    E in Feuer brannte in seinem Kopf, aber Zacharias wusste, dass es eben noch, an einem anderen Ort, viel heißer gebrannt hatte, so heiß, dass seine anderen Gedanken zu Asche zerfallen waren, und aus dieser Asche war der Phönix seines alten Selbst aufgestiegen, mit allen Erinnerungen.
    Etwas mehr als ein Meter trennte ihn von Penelope. Sie gingen an den geborstenen und verbrannten Hafenanlagen von Sea City entlang, in ihrem Rücken das Gebäude, das wie eine dem Himmel entgegengestreckte Hand aussah, das einzige intakt gebliebene Bauwerk in der maritimen Stadt. Das Licht einer heißen tropischen Sonne brannte auf die Reste der Regenfluten herab, die das Unwetter in der vergangenen Nacht gebracht hatte, und ließ sie verdampfen. Überall trieben Dunstwolken wie warmer Nebel, doch abgesehen davon regte sich nichts in Sea City. Die Stadt war tot, in mehr als nur einer Hinsicht.
    Zacharias fand mitten in einem Schritt zu sich zurück. Sein Bewusstsein stand noch in Flammen, er stolperte und hielt sich an einem schiefen Laternenpfahl fest. Weiter vorn, bei den Trümmern eines Kais, ragte eine Tür auf, weiß und schmal. Dahinter, so wusste Zacharias, wartete Lassonde auf sie.
    »Oh, danke«, sagte Penelope. Sie blieb stehen. »Du hast mir Lily gezeigt. Ich werde …«
    »Nein. Du wirst sie nicht resetten. Du wirst niemandem mehr Schaden zufügen.« Zacharias hielt sie fest, nicht mit den Händen – eine von ihnen war noch immer um den Laternenpfahl geschlossen, und deutlich spürte er die Wärme des dunklen, von der Sonne aufgeheizten Metalls –, sondern mit den Gedanken, und er staunte darüber, wie leicht es war. Half ihm Lily dabei? War sie es, die seine geistigen Hände führte und ihnen zeigte, wo sie zugreifen mussten? Vielleicht. Dort stand sie, Penelope, zart wie Florence, das rotblonde Haar wie eine Flamme, und jetzt trug sie nicht einmal mehr Schatten der Stigmatisation, die sich während ihres Komas so deutlich gezeigt hatten. Sie war eine leibhaftige Person in einer konkreten, realen Stadt, aber Zacharias’ innere Augen sahen ein anderes Bild von ihr, ein Muster innerhalb von Mustern, die das bestimm ten, was seine Sinne als Wirklichkeit wahrnahmen. Er wuss te inzwischen, wie man solche Strukturen veränderte: indem man einzelne Pixel des großen, komplexen Bildes nahm und sie an andere Stellen setzte. Penelopes Muster konnte er nicht verändern, aber er hielt es fest.
    Ihre Augen wurden groß. »Was machst du mit mir?«
    Ich muss dich töten, dachte Zacharias. Ich muss dein Muster aus den anderen entfernen, damit du kein Unheil mehr anrichten kannst wie in Lassonde.
    Er fragte: »Was ist mit Sea City geschehen?«
    »Wir brauchen die Stadt nicht mehr, Zacharias«, sagte Penelope. Er ließ sie sprechen. Er hätte auch ihren Mund schließen können, und vielleicht wäre das besser gewesen, vielleicht hätte er es dadurch schneller und leichter hinter sich bringen können. Aber er ließ sie sprechen.
    »Was ist hier passiert?«
    Penelope sah sich um und zuckte die Schultern. Auch die se Bewegungen gestattete er ihr. »Die Taiwanischen Renegaten sind hier gewesen. Das war eine von mehreren Möglichkeiten. Bestimmte Ereignisketten gaben ihr die größte Wahrscheinlichkeit.«
    »Und die Menschen, die hier lebten? Was ist mit ihnen

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