Seelenfänger
zu den anderen nicht leer war.
Ein weiterer Blitz flackerte, so hell, dass den Schatten nicht einmal mehr Gelegenheit zur Flucht blieb. Sie verschwanden ganz aus dem Flur, der plötzlich in weißes Licht getaucht war. Als es verschwand, wirkte die Dunkelheit umso dichter, und sie schien Zacharias’ Bewegungen Widerstand entgegenzusetzen, wie die zähe, träge Luft von Lassonde.
Wie frei bin ich?, dachte er, als er sich seinem Ziel näherte, einer Tür, die nicht wie die anderen weit offen stand, sondern nur einen Spaltbreit geöffnet war. Kann ich hier tun und lassen was ich will? Oder fragt sich das eine Marionette, von fremder Hand geführt?
Vor der Tür blieb er stehen, die Hand halb erhoben, und schickt ein Ping in den Äther dieser Foundation. Es gab kein Echo; sein Radar blieb leer.
Zacharias drückte die Tür auf.
Die medizinischen Geräte, die er erwartet hatte, fehlten. Es flüsterten keine Maschinen mehr, die einen Körper – noch hilfloser als der im Rollstuhl – am Leben erhielten. Hier gab es keine Kabel und Schläuche mehr, dafür aber ein waches, wartendes Leben.
Penelope saß aufrecht im Bett, die Augen groß und den Blick auf Zacharias gerichtet, als er das Zimmer betrat und die Wahrheit sah.
»Willkommen, Bruder«, sagte der Seelenfänger. Bezie hungsweise die Seelenfängerin.
»Wir sind keine Geschwister«, erwiderte Zacharias.
»Wir sind Bruder und Schwester im Geiste«, sagte Penelope. »Kinder von Genesis.«
Penelope Ayyad, von Helen – die ebenfalls von Genesis stammte – wegen der Stigmatisation »Santa Maria« genannt. Tochter eines Palästinensers und einer Israelitin, noch dazu einer früheren Offizierin in der israelischen Armee. Aufgewachsen in einem sehr religiös geprägten familiären Umfeld, vermutlich in engem Kontakt mit dem Fundamentalismus beider Seiten. Und irgendwann hatten die Talentsucher des Philanthropischen Instituts sie gefunden, und sie war Teil des geheimen Projekts Genesis geworden, wie auch Zacharias.
Eine heilige Mission …
Das war der Hinweis gewesen, den Lily ihm gegeben hatte, ein Fingerzeig auf Penelope. Für sie musste der Glaube immer eine große Rolle gespielt haben, und vielleicht hatte sie sich hin und her gerissen gefühlt zwischen zwei verschiedenen Ausrichtungen, ohne sich für eine entscheiden zu können, weil das bedeutet hätte, für einen Elternteil Partei zu ergreifen. Genesis hatte das ausgenutzt und ihr etwas gegeben, an das sie glauben konnte: eine heilige Mission, der Sieg des Menschen über intelligente Maschinen, die freie Selbstbestimmung des menschlichen Intellekts im Netz der Welten. So hatte Genesis Penelope diese Idee verkauft, aber in Wirklichkeit ging es um eine Instrumentalisierung: Das Philanthropische Institut hatte sie benutzt, um nach der Macht zu greifen.
»Wir alle sind benutzt worden«, sagte Zacharias leise. »Aber dich hat es vielleicht am schlimmsten getroffen.«
Penelope sah ihn ruhig an. Nur noch vage Flecken erinnerten an die Stigmata auf der Stirn und an den Innenseiten ihrer Hände. »Wir haben gesiegt, fast. Mit deiner Hilfe schaffe ich auch den letzten Schritt.«
Drei Jahre war sie als Salomo im Weltennetz unterwegs gewesen, während sie hier im Koma gelegen hatte, als vermeintliches Opfer eines unglückseligen Zwischenfalls, gefangen im kollabierten Selbst eines Patienten, der einen Hirninfarkt erlitten hatte, einen Ischämischen Schlaganfall. Zacharias erinnerte sich daran, dass Rasmussen, Florence und die anderen ihre Stigmatisation immer für psychogen gehalten hatten: das Ergebnis autosuggestiver Vorstellungen und eines tief im Unterbewusstsein verankerten religiösen Wahns. Genesis hatte dort angesetzt und die Wurzeln der »heiligen Mission« in diesen mentalen Nährboden gesenkt. Irrationaler Fanatismus war daraus gewachsen und hatte das Ich einer Person deformiert und verkrüppelt. Hier war ein Mensch angeblich um der Menschen willen geistig vergewaltigt worden. Was da vor ihm auf dem Bett saß, zart wie Florence, das Haar rot wie Feuer im Licht der Blitze, war die gepeinigte, gemarterte Seele eines Menschen, der zum Seelenfänger geworden war.
Für einen Moment fragte sich Zacharias, wie sich die Ereignisse ohne den Unfall mit dem Hirninfarkt-Patienten entwickelt hätten, ohne Penelopes Koma. War dadurch aus einem Auftrag Besessenheit geworden? Hatte Penelope, verirrt in einem gesplitterten Ich, selbst den Verstand verloren? War Prisma mit den vielen Spiegeln eine Metapher dafür? So wie
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