Seelenfänger
die Narbe neben der Nase des Seelenfängers in gewisser Weise ein Spiegelbild der Stigmata darstellte. Zacharias erkannte eine gewisse Eleganz in diesen Erklärungen und hätte darin gern ein Zeichen für Wahrheit gesehen. Aber er blieb misstrauisch genug, um auch an eine andere Möglichkeit zu denken, düster wie die Schatten hinter ihm im Flur, die herankrochen, wenn sie nicht vom Gleißen der Blitze vertrieben wurden. Vielleicht war auch dies geplant gewesen. Wer hatte damals entschieden, Penelope ausgerechnet in den Space jenes Patienten zu schicken? Rasmussen? Oder war die Anweisung von weiter oben gekommen?
»Du brauchst Hilfe anderer Art«, sagte Zacharias. »Du bist krank und …«
»Du verstehst nicht.« Penelope lächelte, und es war das Lächeln des Seelenfängers, sanft und freundlich, aber ge stützt von eiserner, unerschütterlicher Entschlossenheit. »Ich habe dich hierhergeholt, Zacharias. Wir müssen die Aufgabe erfüllen, auf die man uns vorbereitet hat. Ich nehme mir deine Hilfe, ob du sie mir freiwillig gibst oder nicht.«
Ein weiterer Blitz flackerte, und Zacharias fragte sich, ob das Unwetter ein Symbol für das war, was hier und jetzt geschah.
Dann fühlte er eine Hand in seinem Innern, und sie riss ein Stück aus ihm heraus.
Stimmen erklangen in seiner Nähe, wie durch Watte gedämpft.
»Ich halte eine so hohe Dosis Tetranol für viel zu gefährlich«, sagte eine dieser Stimmen. »Das Nervensystem des Jungen könnte bleibenden Schaden nehmen.«
Des Jungen, dachte Zacharias. Ich bin hier ein Junge, kein Mann, aber ich bin noch immer ich. Er versuchte, die Augen zu öffnen und die Gesichter der Sprechenden zu sehen, aber es gelang ihm nicht. In diesem Universum gab es nur Töne.
Und Berührungen. Hände bewegten ihn, kalte Sensoren klebten auf seiner Haut.
»Die Zeit läuft uns davon«, sagte eine andere Stimme. »Der Junge ist vielversprechend. Wir müssen seine Entwicklung forcieren.«
»So hohe Dosen greifen das Nervensystem an.«
»Sie verändern es.«
»Sie verändern und schädigen es.«
»Vielleicht sind wir in einigen Jahren imstande, die angerichteten Schäden zu reparieren.«
»Zu reparieren? Wir reden hier von einem Menschen. Und wollen Sie sich wirklich mit einem ›Vielleicht‹ begnügen?«
»Wollen Sie Gewissheit? Nun, ich kann Ihnen eine Gewissheit anbieten. Wenn wir hier keinen Erfolg haben, geht die Ära des Menschen schon bald zu Ende.«
Zacharias schwebte im Nichts und dachte: Sie haben Penelope geistig verkrüppelt und mich körperlich. Es war kein Pech, kein Schicksalsschlag, keine verdammte Laune meiner Gene. Sie sind dafür verantwortlich, die Leute von Genesis, die angeblichen Menschheitsretter. Ihnen verdanke ich meine ALS; der Rollstuhl ist ihr Geschenk.
Das machte ihn so zornig, dass einige Zeit verging, bis er sich fragte: Wo bin ich? Was ist mit mir geschehen?
Er kannte die Hütte, und auch den Hügel, auf dessen Kup pe sie stand, umgeben von hüfthohem wogendem Gras. Teneker hatte sie zu dieser Hütte gebracht, und in ihr war es zur ersten Begegnung mit dem Seelenfänger gekommen.
»Bist du hier?«, fragte Zacharias, aber ihm antwortete nur der Wind, mit einem leisen, wortlosen Flüstern. Warm strich er übers Gras, wie eine große streichelnde Hand; weiter unten spielte er mit den Dünen der endlosen Wüste und blies Sand über ihre gelbbraunen Hänge.
Er stand neben der Hütte, blickte über die Wüste und fühlte sich voller Gedanken, die darauf warteten, dass er ihnen in seinem Kopf Raum gab. Vielleicht, dachte er, fühlt sich so ein Autor, der sich anschickt, die ersten Zeilen einer Geschichte zu schreiben. Er fragte sich, ob das, was er hier erlebte, das Ende seiner Geschichte war, aber wie auch immer die Antwort lauten mochte, sie kümmerte ihn nicht sehr. Eine vage Taubheit lag über seinen Empfindungen, und er empfand sie als recht angenehm.
Einige Tage verbrachte er in Ruhe und Frieden und dachte viele der Gedanken, die immer darauf gewartet hatten, einmal seine Aufmerksamkeit zu bekommen. In dem kleinen Holzhaus gab es genug zu essen und zu trinken – der ohne Elektrizität funktionierende Kühlschrank war voller Lebensmittel –, und nachts schlief er oft im weichen Gras. Manchmal beobachtete er die Sterne und fragte sich, ob es jene Sterne waren, die er als Kind gesehen hatte.
Am vierten Tag – oder vielleicht am fünften, oder sechsten; es war nicht wichtig, die Tage und Nächte zu zählen, fand er – kam es zu einer
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