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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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die Ruinenstadt zu erforschen. Eigentlich hatte sie mit dem Aufzug kommen und die Kinder abholen sollen, um sie zur kleinen Siedlung am Fuß des Tafelbergs zu bringen; stattdessen mussten sie den viel längeren und beschwerlicheren Weg über die Treppe nehmen.
    Eine Glocke läutete, und für einen Moment dachte Flo rence, dass es der Aufzug war, dass ihn die Leute unten repariert hatten und nach oben schickten. Doch als Estell losrannte, begriff sie, dass das Läuten aus der nahen Ruinenstadt kam, und elektrisierende Aufregung erfasste sie. War es gelungen, das Portal zu öffnen?
    Rasch folgte sie Estell, und Lucius lief neben ihr.
    Zwischen den Mauerresten erschien eine Gestalt im matten Schein der Öllampen.
    »Navarro?«, rief Florence von Weitem.
    »Navarro ist unten«, antwortete die Gestalt, und Florence erkannte die Stimme von Geritus, einem Legaten von Lassonde. »Wir haben etwas gefunden!« Mit »wir« meinte er die insgesamt vier »Archäologen« – so nannten sie sich selbst, obwohl sie eigentlich nur im Dreck herumwühlten –, die seit fast einem Jahr den größten Teil ihrer Zeit damit verbrachten, in der Ruinenstadt nach Spuren der verschwundenen Bewohner zu suchen.
    Also nicht das Portal, dachte Florence enttäuscht. »Was?«
    »Eine Zeitkapsel! Navarro hat sie bereits geöffnet.«
    Damit hätte er warten sollen, verdammt!, fuhr es Florence durch den Sinn. Kaum bin ich fünf Minuten weg …
    Sie holte Estell ein und hielt sie fest. »Bitte pass auf die Kinder auf, Geritus. Malena ist auf dem Weg hierher und holt sie ab.«
    »Aber ich würde gern sehen, was …«
    Florence war bereits auf dem Weg zur freigelegten Rampe. »Bitte!«, rief sie über die Schulter. »Sie müsste in ein paar Minuten hier sein. Ich habe die Lichter auf der Treppe gesehen.«
    Eine Laterne hing an einem Mauervorsprung und schwankte im leichten Wind. Florence eilte an dem großen Schutthaufen vorbei, der an die Ausgrabungen der letzten Tage erinnerte, und die Rampe hinunter: ein schmales Band aus grauem, betonartigem Material. Eine Zeitkapsel, dachte sie. Eine Botschaft aus der Vergangenheit. Vielleicht mit einem Hinweis darauf, wie sich das Portal öffnen ließ.
    In einer Tiefe von etwa zehn Metern eilte sie durch den Gang, der zum Hauptraum führte, atmete warme, staubige Luft und stieß in ihrer Hast mehrmals gegen Balken, mit denen sie die brüchige Decke abgestützt hatten. Dem Knirschen über ihr schenkte sie keine Beachtung; es hörte sich schlimmer an, als es in Wirklichkeit war.
    »Navarro?«
    »Wir sind hier!«, ertönte es vorn.
    »Rührt nichts an, hört ihr?«, rief Florence.
    »Du wirst staunen«, antwortete Navarro. »Dies hier …«
    Seine Stimme verklang.
    Für einen Moment zögerte Florence, von einer seltsamen Furcht erfasst. Dann lief sie noch schneller und brachte die letzten Meter zum Hauptraum hinter sich.
    Mehrere Öllampen brannten dort und drängten die Dunkelheit zurück. Der Boden war mit Fliesen ausgelegt, und einige von ihnen hatten sie herausgeschlagen. Darunter befanden sich kleine Hohlräume, in ihnen manchmal Objekte, deren Zweck ein Rätsel blieb. Es handelte sich nicht um Instrumente oder Werkzeuge, wie sie sie in und unter den anderen Gebäuden der alten Stadt gefunden hatten, aber ihre Präsenz deutete vielleicht darauf hin, dass der »Schatz« in der Nähe war, dessen Existenz sie seit Monaten vermuteten: eine Art Vorratskammer, gefüllt mit der Technik jener Menschen, die einst hier in Zuflucht gelebt hatten und dann, vor Jahrhunderten, verschwunden waren. Von ihnen stammten die meisten der Werkzeuge, die das tägliche Leben der vor fast sechs Jahren von Prisma geflohenen Traveller und Legaten erleichterten. Sie lebten noch immer unter recht primitiven Verhältnissen, denn aus irgendeinem Grund widersetzte sich Zuflucht Veränderungen. Einfache Dinge wie Material für den Bau von Hütten konnten die Traveller relativ leicht erdenken, aber alles, was darüber hinausging, erforderte große Anstrengungen. Für die Flücht linge war alles schwerer gewesen, als es sich Zacharias damals vorgestellt hatte.
    Der junge Navarro, sein Haar schwarz wie die Nacht, saß im Schneidersitz auf dem Boden, neben einem weiteren geöffneten Hohlraum. Als Florence näher kam, stellte sie fast, dass er besonders groß war und offenbar den Zylinder enthalten hatte, der mit abgeschraubtem Verschluss neben Navarro lag.
    »Weg von dem Portal, Janow«, sagte Navarro plötzlich und starrte auf das entfaltete Dokument

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