Seelenfeuer
bis der Platz sich leerte. Immer noch drängten sich gut hundert Menschen vor dem Kirchenportal. Sie versuchten sich in Sicherheit zu bringen, während Hagelkörner von Umfang und Größe eines Taubeneis auf sie niedergingen. Der Himmel über ihnen glich einer eisigen Hölle.
Luzias Wange ruhte an Johannes’ Schulter. Als ihr der holzige Duft seiner Marseiller Seife in die Nase stieg, wünschte sie sich, der Augenblick möge nie enden. Im nächsten Moment schämte sie sich der Gedanken, die in ihr aufstiegen, obwohl die Umstände furchtbarer nicht sein konnten.
Ihr Kleid war klatschnass, ihr kupferrotes Haar klebte ihr in nassen Strähnen im Gesicht. Johannes hielt sie die ganze Zeit gegen die Kirchenmauer gepresst und stand wie ein schützendes Schild vor ihr.
Auch er atmete den kostbaren Augenblick ihrer Nähe. Luzias Haar duftete nach Blumen und Honig. »Großer Gott, wie ich diese Frau liebe!«, dachte er und berührte eine Strähne ihrer glühenden Locken mit den Lippen. Durch sein nasses Hemd hindurch, das ihm wie eine zweite Haut am Körper klebte, spürte er jede weiche Rundung ihrer Weiblichkeit.
»Ihr holt Euch noch den Tod!«, flüsterte er zärtlich.
Obwohl Luzia zitterte, bis ihre Zähne aufeinanderschlugen, schüttelte sie den Kopf.
»Ihr seid klatschnass und friert, wir sollten langsam wieder hineingehen.« Zögernd löste er seine Arme von Luzias Hüfte. Er fürchtete auch um ihren Ruf, wenn sie noch längere Zeit allein hier draußen zubrachten. Die Leute redeten sowieso schon.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu hageln, und die Welt hatte sich völlig verändert. Still und weiß erinnerte der Platz um die Kirche an einen Wintertag. Überall lagen die Eisklumpen zentimeterhoch und hatten den Weg zurück in eine halsbrecherische Eisbahn verwandelt. Weil der Medicus nicht wollte, dass Luzia fiel, trug er sie die wenigen Schritte zum Kirchenportal auf seinen Armen. Sanft setzte er sie ab. Als sie die Tür öffneten, verstummte Grumper, und alle drehten sich zu ihnen herum.
»Das Wetter ist vorbei!«, sagte von der Wehr laut.
Die Leute sahen sich an und bekreuzigten sich. Nach einem kurzen Dankgebet entließ der Kaplan die Gemeinde.
Draußen herrschte blendendes Weiß. Die Schwüle des Morgens war einem frostigen Eishauch gewichen. Über allem lag eine unheimliche Stille, als hätte das Himmelseis den ewigen Atem der Erde erstickt.
Die Aufräumarbeiten begannen noch am selben Tag. Überall schippten die Leute mit Schaufeln und Eimern, viele auch mit bloßen Händen die Unmengen von Hagel beiseite.
Der Handelszug hatte den Großteil seiner Ladung eingebüßt. Die Achsen der meisten Wagen waren gebrochen, weil die Pferde mit der kostbaren Fracht durchgegangen waren. Der größte Planwagen, der mit Gewürzen und Salz beladen war, lag umgekippt im Morast. Ein mit Stoffen beladener Karren hatte seine schimmernden Seidenballen beim Überqueren der Schussen verloren. Während die sterbenden Pferde gequälte Laute von sich gaben, irrten die verwundeten Männer umher.
Bald stellte sich heraus, dass einige Männer vermisst wurden. Keiner hatte sie, nachdem der Zug in Ravensburg eingetroffen war, wiedergesehen. Sicher waren auch sie in den reißenden Fluten der Schussen umgekommen, die nach dem sintflutartigen Regen so angeschwollen war, dass sie weite Teile der Felder überschwemmte. Die Obstbäume standen kahl und leer in ihren Reihen. Ohne ihre Knospen und Blüten sahen sie aus, als wäre es tiefster Winter. Sämtliche Reben, die rund um Ravensburg wuchsen, hatte der Hagel blattlos zurückgelassen. Das gesamte Sommergetreide, welches im Juli erntereif gewesen wäre, war zermalmt. Alle frühen Gemüse waren durch die Wucht des Hagels zerschmettert und die frisch gesäten Felder verheert. Ravensburg glich einem Bild des Jammers.
13
O bwohl die Aufräumarbeiten längst in vollem Gange waren, wirkte die Stadt am Tag nach dem großen Unwetter wie aus einer unbekannten Welt. Menschen und Tiere standen noch immer unter Schock und konnten nicht glauben, was sich vor ihren Augen abgespielt hatte. Während die allermeisten Ravensburger stumpf und schweigend vor sich hin arbeiteten, um die Straßen und Gassen vor ihren Häusern wieder halbwegs passierbar zu machen, brüllten die Kühe und Ochsen in den Ställen, als wäre ihr Leben immer noch in Gefahr. Überall bellten die Hunde, als habe ihr letztes Stündlein geschlagen. Während des Hagelsturms hatte man ihr ängstliches Kläffen nicht gehört, doch
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