Seelenfeuer
gespenstische Stille. Gerade als ob die Erde ihren Atem anhielt und das große Rad der Zeit stillstand. Als Luzia den grünen Innenhof des Apothekerhauses betrat, bemerkte sie, dass nicht einmal der Sperling zwitscherte, der in den Zweigen der Linde wohnte. Die ganze Welt schien auf etwas zu warten, selbst Nepomuk hatte sich geweigert, ihr hinaus in den Garten zu folgen. Zusammengerollt lag er unter ihrem Bett und ließ sich nicht einmal durch süßen Rahm hervorlocken.
Sie setzte sich für einen Moment auf die kleine Steinbank und sah zum Himmel hinauf. In einem bedrohlichen Schwefelgelb lag er wie Blei über der Stadt. Einzelne dunkelgraue Wolken türmten sich riesig auf. Luzia fürchtete, sie würden den Kirchturm verschlucken, so tief hingen die finsteren Gebilde. Abermals irritierte sie das beunruhigende Schweigen der Natur. Von der Straße kam ebenfalls kein Laut. Kein Lachen, kein Hundegebell, kein Rattern eines Fuhr werks. Nicht ein Lüftchen bewegte sich, dennoch ließ sie etwas schaudern.
Als sie zurück zum Haus ging, traf sie auf Johannes von der Wehr, der sie und Basilius zum gemeinsamen Kirchgang abholte, wie es sich in den letzten Wochen stillschweigend zwischen ihnen eingebürgert hatte. Selbst der junge Medicus wirkte heute still und verschlossen. Er nahm zwar Luzias Hand und küsste sie, doch nicht einmal die Schmetterlinge in ihrem Bauch wollten zum Leben erwachen. Johannes klagte über Kopfschmerzen.
»Spürt Ihr auch das herannahende Unwetter?«, fragte Luzia. »Wartet, ich hole Pfefferminzöl. Damit könnt Ihr Euch den Nacken kühlen.«
Von der Wehr nickte dankbar. »Mein Kopf fühlt sich an, als habe ich die Nacht durchzecht, dabei bin ich früher als sonst zu Bett gegangen.«
Luzia kam mit dem Fläschchen des kostbaren Öls aus der Apotheke. Johannes senkte den Kopf, und Luzia rieb ihm einige Tropfen in den Nacken.
»Die Nacht war für niemanden von uns erholsam«, sagte sie. Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass ihre Hände zart über Johannes’ Haut strichen, und sie wurde verlegen. Rasch nahm sie ihre Hände weg. Er wandte den Kopf und sah sie auf eine Art an, die ihr das Blut in den Adern heiß werden ließ.
»Das kannst du laut sagen! Ich habe mich noch weit nach Mitternacht auf meinem Lager herumgewälzt«, polterte Basilius mit grimmiger Miene, und Luzia war ihm dankbar für die Ablenkung.
Sie nahm den Krug und goss auch Johannes etwas von der Weidenrindenabkochung ein, die sie bereitet hatte.
Der junge Medicus nickte zustimmend. »Mir ging es ganz ähnlich. Als ich in der Nacht noch einmal vor die Tür trat,
zeigte der Himmel bereits die Vorboten eines gewaltigen Wetters. Eine so bedrohlich gelbe Verfärbung des Himmels habe ich nicht einmal während meiner Kindheit am See erlebt. Dabei zählt der Bodensee in der Tat zu einer sturmerprobten Gegend.«
Später, als sie sich gemeinsam auf den Weg zur Liebfrauenkirche machten, waren sie sich einig, dass die Luft noch ein wenig drückender über der Stadt lastete als noch eine Stunde zuvor. Unterwegs trafen sie auf andere Kirchgänger, und auch diese klagten über die unerträgliche Schwüle.
Im Westen türmten sich jetzt bedrohlich wirkende, dunkle Wolken zu einer düstergrauen Wand auf. Ein paar Böen trieben sie über den Himmel, und sie verdunkelten das letzte Licht einer trüben Sonne, die kaum die Kraft hatte, durch das schwefelgelbe Licht zu brechen. Die ersten hellen Blitze zuckten vom Himmel, ein lautes Donnergrollen folgte. Jemand schrie erschrocken auf, einzelne Frauen bekreuzigten sich. Alle beschleunigten ihren Schritt, sie wollten schnell in den Schutz der Kirche gelangen.
»Ich glaube, da kommt ein gewaltiges Unwetter auf uns zu«, sagte Johannes, während er besorgt zum Himmel sah.
»Gewöhnlich gibt es diese Wetterstimmung nur am Bodensee«, sagte Luzia mit einem Blick zum Himmel. »Doch so dunkel war es selbst dort nie.«
Wind kam auf und trieb ein paar Blätter in einem wilden Strudel vor sich her. Ein weiterer Blitz zuckte aus den Wolken und verfehlte den Kirchturm nur knapp.
In diesem Augenblick preschte ein Reiter auf den Kirchplatz und kündete die Rückkehr eines Handelszuges an.
»Glaubst du, die Leute schaffen es noch rechtzeitig in die Stadt, bevor es wirklich gefährlich wird?«, fragte Luzia an Basilius gewandt. Sie fürchtete um die Sicherheit und das Leben der Männer der Handelsgesellschaft.
»Das hoffe ich für sie«, erwiderte der alte Apotheker.
Nun begannen auch die Glocken der
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