Seelenfeuer
seitdem wieder Ruhe eingekehrt war, bellten sie ununterbrochen. Sie fürchteten ein neuerliches Unwetter. Die Stimmen der Tiere hallten wie ein Wehklagen durch die Stadt und schließlich zum Himmel hinauf. Angesichts der schaurigen Laute bekreuzigten sich die Leute, ehe sie ihre Arbeit wiederaufnahmen.
Das ganze Ausmaß des Hagelunwetters zeigte sich erst nach und nach. Das grauenhafte Gesicht der Verwüstung wurde mit jeder Stunde deutlicher.
Bürgermeister Ettenhofer hatte ein paar Reiter ausgesandt, um wenigstens annähernd erfassen zu können, was der Hagelsturm außerhalb der Stadtmauern angerichtet hatte. Als sie verstört und voller Entsetzen zurückkamen, war klar, Wiesen und Äcker glichen auf der Gemarkung Ravensburg und in weiten Teilen der Umgebung dem gepflügten Erdboden der Wintermonate.
»Sämtliche Dinkelfelder sind nicht wiederzuerkennen. Die meisten Obstbäume sind dem Sturm zum Opfer gefallen. Viele alte Bäume sind entwurzelt, andere liegen umgeknickt im Morast, als wären es Kienspäne gewesen«, berichtete der jüngere der beiden Reiter atemlos.
Ettenhofer wurde mit jedem Wort der beiden Männer blasser und stiller. Ihm war durchaus klar gewesen, dass es so etwas wie den Sturm des vergangenen Abends nicht alle Tage gab, aber mit diesen Ausmaßen hatte er nicht gerechnet.
»In der kleinen Kapelle vor den Stadttoren steht das Wasser mindestens kniehoch«, jammerte der ältere der beiden Ratsknechte. »Und der Marienstatue, die auf dem Altar stand, hat es sogar den Kopf zertrümmert.«
Ettenhofer schloss die Augen und zwickte sich in die Nasenwurzel. Seine Kopfschmerzen brachten ihn fast um.
»Die uralte Pappel, die seit Menschengedenken neben dem heiligen Schrein steht, wurde grausam verstümmelt. Der Sturm hat den Stamm um die Hälfte gefällt und von den Seitentrieben stehen lediglich noch zwei. Aus der Ferne wirkt der Baum wie ein Kreuz. Theodor und ich glaubten sogar, einen Menschen daran hängen zu sehen.«
»Ich schwöre beim Leben meiner Alten, so etwas Unheimliches habe ich noch nie gesehen«, versicherte der andere
Ratsknecht, der Theodor hieß, hastig und raufte sich seinen kurzen Bart.
»Erst als wir näher kamen, sahen wir, dass es nur eine Vogelscheuche war, die in den Ästen der Pappel hing. Aber selbst der Strohmann wirkte wie der Gekreuzigte selbst«, murmelte der andere, dabei legte er in einer frommen Geste die Hand auf sein Herz. »Der Sturm hat den Strohmann ans Kreuz gehängt. Es war ein Zeichen oder eine Warnung. In jedem Fall aber schaurig anzusehen.«
Die Boten berichteten von weiteren Schrecklichkeiten, die sie gesehen hatten. Abgedeckte Dächer, totes Vieh auf den Weiden, hilflos herumirrende Menschen. Dabei bekreuzigten sie sich mehrmals und wirkten immer noch völlig konfus.
»Glaubt mir, die Gegend sieht aus, als würde sie selbst in drei Jahren keine Ernte hervorbringen. Wir alle werden hungern müssen, und die Leute reden bereits vom Wettermachen«, erklärte Theodor mit ängstlicher Miene und zog den Umhang fester um den Leib.
»Bei Gott, Ihr könnt gehen, und Dank für Eure ausführliche Berichterstattung«, entließ sie Ettenhofer. Er blieb allein im kleinen Ratssaal zurück und ging neben den Fenstern auf und ab.
Bereits seit der vergangenen Nacht stand Johannes von der Wehr im Operationssaal des Antoniterspitals. Dorthin hatte man nach und nach all die Verletzten und Verwundeten des Handelszuges gebracht. Die Spitze des Kaufmannszugs hatte die Stadt gleich nach dem Hagelwetter erreicht. Erst viele Stunden später hatte sich geklärt, dass er mindestens zweihundert Menschen umfasste, die nach und nach eingetroffen
waren. Wie es hieß, war er aus dem spanischen Saragossa gekommen. Kurz vor den rettenden Toren der Stadt, zwischen Markdorf und Ravensburg, war er Opfer eines Überfalls geworden. Die Reisenden hatten sich gerade halbwegs wieder gesammelt, die Verletzten eingesammelt und die Schäden begutachtet, als der Sturm über sie hereingebrochen war.
Während die Ravensburger überall in den Gassen noch die umgestürzten Bäume mühsam zersägten und abtransportierten, Berge von Unrat und Schlamm beseitigten, um ein Mindestmaß an Leben wieder möglich zu machen, kämpfte der Medicus im Antoniterspital in der Herrenstraße zusammen mit den Brüdern des Ordens um das Überleben der Männer und Frauen.
Zweihundert Menschen, allesamt am Ende ihrer Kräfte, ohne Waren, ohne Geld hofften auf Versorgung ihrer Wunden, auf Trost und gute Worte.
Den
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