Seelenfeuer
Liebfrauenkirche mit dem Sturmläuten. Von weiter unten ertönte das dringende Geläut der St.-Jodok-Kirche. Die Geistlichen hofften, durch den Klang der geweihten Glocken das Unwetter abzuwenden.
Während Luzia und ihre Begleiter die Kirche betraten, fielen die ersten großen Tropfen. Von weiter hinten drängten die Leute in das schützende Innere. Wobei der erhoffte Schutz nicht nur aus dem Dach über dem Kopf bestand. Auch die Nähe zu Gott ließ die Ravensburger hoffen.
Während sich auch die Bettler hinter den letzten Kirchenbänken in Sicherheit brachten, betrat Kaplan Grumper bereits mit düsterer Miene die Kanzel und wartete, bis Ruhe eingekehrt war. Als Luzia ein letztes Mal über die Schulter sah, blieb ihr Blick an dem verkrüppelten Bettler mit den Flusskieseln hängen. Obwohl auch in seinen Augen die Angst flackerte, bedachte er Luzia mit einem freundlichen Lächeln, ehe die laute Stimme des Kaplans Aufmerksamkeit gebot.
»Hört, ihr Brüder und Schwestern, ich sage, der Antichrist ist unter uns! Er greift nach uns und sucht uns hinabzuziehen in seinen Höllenschlund, auf dass wir ewig in der Verdammnis harren und das Licht Gottes nicht einmal mehr aus der Ferne sehen. Kehrt um und tuet Buße!«, wetterte Grumper aus schwindelnder Höhe auf seine Gemeinde herab.
Die Kirchgänger duckten sich unter den düsteren Prophezeiungen des aufgebrachten Kaplans und machten sich daran,
das Unheil im Gebet abzuwenden. » Pater noster, qui es in caelis … sed libera nos a malo. Amen .«
Nachdem die letzten Worte verklungen waren, stimmte Kaplan Grumper das Ave-Maria an und die ganze Gemeinde betete laut: » Ave Maria gratia plena, Dominus tecum … Sancta Maria, Mater Dei … nunc et in hora mortis nostrae. Amen .«
Der Wind heulte mit einem schaurigen Lied um die Kirche und ließ die heiligen Steine unter der Macht seines Atems erzittern. Selbst das massive Eichenportal der Kirche ächzte unter der Kraft des Sturms. Als es schließlich unter lautem Krachen aufschwang, klagte die ganze Gemeinde, bekreuzigte sich mehrmals und rief nach Gottes Beistand. Einige Kinder begannen zu weinen. Während ihre Mütter sie zu beruhigen suchten, trug der wütende Sturm große Regentopfen ins Kircheninnere und färbte den grauen Stein schwarz.
Grete bekreuzigte sich hastig ein paar Mal und trat aus der ersten Bank. Ihr Gesicht wirkte eingefallen und starr vor Angst. Mit großen Schritten eilte sie Richtung Apsis, dort warf sie sich mit weit ausgebreiteten Armen und dem Gesicht nach unten vor das Allerheiligste und betete mit lauter Stimme: »Errette mich von den Blutschulden, Gott, der Du mein Gott und Heiland bist.«
Luzia spürte, wie sich Nannes Fingernägel schmerzhaft in ihren Arm gruben. Wie so oft saßen sie nebeneinander in einer der letzten Bänke, und einzelne Regentropfen, die nach wie vor durch das offene Portal gepeitscht wurden, erreichten die Plätze, auf denen sie saßen.
»Das ist doch kein gewöhnlicher Sturm mehr, oder?«, schluchzte Nanne entsetzt.
Luzia zog die Schultern hoch. »Nanne, ich weiß es auch
nicht! Lass uns hoffen, dass wenigstens der Turm nicht einstürzt. Er würde uns alle unter sich begraben.« Sie hielten sich an den Händen, und Luzia spürte Nannes Angst. Doch heute konnte sie ihr keinen Trost spenden, sie fürchtete sich selbst. Sie warf einen Blick hinüber in die Bankreihe, in der ihr Onkel und Johannes saßen. Beide blickten besorgt nach oben zum Kirchendach.
»Betet, um Gottes willen! Betet weiter!«, schrie Kaplan Grumper von der Kanzel, sobald er das Gefühl hatte, die Bemühungen und die Ernsthaftigkeit der Leute ließen nach. Das Gebälk ächzte unter den scharfen Zähnen des Windes und drohte einzustürzen. Vereinzelt rieselten Sand und Mörtel zu Boden und bedeckten die Kirchgänger mit einer staubigen Puderschicht. Einige duckten sich ängstlich, manche schrien und zeigten entsetzt zur Decke hinauf. Kaplan Grumper stürzte die Treppe der Kanzel hinunter und hetzte in Richtung Altar. Dort hing an einer geschmiedeten Kette das ewige Licht. Die immerwährende Flamme hinter dem roten Lampenglas zeigte den Standort des Tabernakels, in dem das Allerheiligste aufbewahrt wurde. Daneben ruhte die Monstranz, in deren Inneren sich die geweihte Hostie befand.
Jetzt hing alles von ihm ab. Grumper griff nach der goldenen Monstranz und eilte zum Ausgang der Liebfrauenkirche.
Mühsam stemmte er sich gegen die Wand aus Regen und Sturm. Seine Soutane wurde vom Wind gepackt. Wie ein
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