Seelenfeuer
Anfang eines Handelszugs machten die Fahnenschwinger, Pfeifer und Trommler, die den Transportzug zur Abschreckung von Wegelagerern und anderem Gesindel begleiteten. Ihnen folgte das Geleit, welches dem Schutz der Handelsherren, ihrer Waren und dem Geld diente. Es setzte sich aus Spießgesellen, Reitknechten und Söldnern zusammen. Dann kamen die schweren, vierspännigen Planwagen, welche von Fuhrknechten gelenkt wurden und die Waren aus aller Welt transportierten. Ihnen rückten die prächtigen Reisewagen nach, in denen es den Handelsherren möglich war, einigermaßen bequem zu fahren. Dann folgten das Fußvolk, bestehend aus Knechten, welche mit Waren beladene Pferde und Maultiere führten, und Versorgungswagen, die nicht nur in kürzester Zeit eine Feldküche einrichten konnten, sondern
auch Planen und Zelte für einen Unterstand mit sich führten. Gefolgt von einigen Soldaten aus dem Geleit bildeten die Trosshuren den Schluss des Handelszuges.
Alle Gruppen hatten Verluste zu beklagen, einzig die Insassen der Reisewagen waren allesamt unverletzt geblieben.
Zu den Verletzten des Handelszugs kamen noch unzählige Verwundete aus der Stadt und den umliegenden Dörfern hinzu, die von dem Unwetter betroffen waren.
Gut fünf Dutzend Verwundete harrten bereits auf Strohsäcken aus. Doch der Strom der Verletzten riss nicht ab. Selbst auf Schubkarren oder Ochsengespannen wurden die teils schwerverletzten Männer herbeigefahren. Irgendwann wurden selbst die strohgefüllten Säcke knapp, nicht zu reden von den Decken, die Johannes von der Wehr herbeigeordert hatte, um die Verwundeten vor Unterkühlung zu bewahren. Einige besonders arme Teufel hatten die Helfer einfach vor das große Gebäude in den Matsch gelegt. Viele der Männer hatten längst das Bewusstsein verloren, andere warteten, teils unter qualvollen Schmerzen, bis Johannes oder ein Bruder des Antoniterordens Zeit fand, sich ihrer anzunehmen.
Unter der Anleitung des jungen Medicus hatten Bruder Walko, Bruder Edmund und Bruder Anselm bereits viele Verletzte versorgt. Am schlimmsten hatte es die Opfer des Überfalls getroffen: eingeschlagene Schädel, schwere Stich- und Hiebverletzungen. Hier waren besonders viele Amputationen nötig gewesen. Dazu kamen Verletzungen durch herabstürzende Äste oder einstürzende Gebäude während des Hagelsturms. Viele Wunden hatten sich entzündet. Johannes und seine Helfer versorgten die Kranken pausenlos, doch es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass sie dringend weiterer
Hilfe bedurften. An helfenden Händen mangelte es zwar nicht, aber die wenigsten von ihnen waren imstande, eine Blutung zu stillen oder eine Wunde zu nähen.
Im Erdgeschoss des Spitals befand sich ein Raum, den der Medicus als Operationssaal nutzte. Hier waren die Fensteröffnungen im Gegensatz zu vielen anderen Ravensburger Gebäuden, die noch mit Schweinsblasen verschlossen waren, bereits verglast. Zusammen mit den weiß gekalkten Wänden machte das den Raum sehr hell und erleichterte ihm die Arbeit. Direkt unter eines der Fenster hatte Johannes eine schmale Untersuchungsliege stellen lassen, daneben mehrere kleine Tische. Für gewöhnlich liebte der junge Arzt ein aufgeräumtes Arbeitszimmer, jetzt aber lagen lange silberne Sonden, gebogene Messer und Skalpelle in einem unüberschaubaren Durcheinander herum. Auf einem der Tische lag die blutige Knochensäge zwischen der Dose mit Katzendarm, dem Glas mit Seidenfäden und den chirurgischen Nadeln. Ein kleines Regal beherbergte Unmengen gerollter Scharpie und hohe Stapel Leinenstreifen, die zum Wundauflegen und als Verband gebraucht wurden. Daneben standen Gläser mit dunkelbrauner Bilsenkrauttinktur und dem Schlafmittel aus destillierter Mandragora. Die Flüssigkeit war von einem hellen Grün und schillerte geheimnisvoll. Johannes warf einen besorgten Blick auf die Medizin. Es waren seine beiden letzten Gläser, dann waren alle Vorräte aufgebraucht. Aber es gab noch so viele Patienten zu versorgen. Gerade wurde wieder ein Ochsenkarren angekündigt, der neue Verletzte brachte.
Auf dem Boden hinter der Untersuchungsliege stand seine geräumige Tasche. Johannes fing zum wiederholten Mal Bruder
Anselms neugierigen Blick auf. In dem braunen Lederkoffer warteten Dinge, die der Medicus lieber nicht offen zur Schau stellen wollte. Aber wenn das Betäubungsmittel zur Neige gehen sollte …
Von der Wehr stand neben der Untersuchungsliege, seine Füße steckten in hohen ledernen Stiefeln, die mittlerweile
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