Seelenfeuer
großer Runde gespeist, lärmende Feste wurden gefeiert, Dichter lasen aus ihren Werken vor, Theatergruppen unterhielten die Gäste mit ihren Schauspielkünsten. Jeden Abend entzündeten die Sklaven die Fackeln und Lampen in Haus und Innenhof, dann trafen die Gäste mit ihren Leibwächtern ein, und bald schallten Musik und Gelächter durch die Villa. Selene und Ulrika wurden zu diesen Geselligkeiten niemals eingeladen, aber sie konnten nicht umhin, das fröhliche Treiben in ihren Zimmern im oberen Stockwerk zu hören, und manches Mal kniete Ulrika auf dem Balkon und spähte durch die Gitterstäbe des Geländers hinunter.
Selene machte es nichts aus, von der heiteren Geselligkeit ausgeschlossen zu sein; sie hatte anderes im Kopf. Jeden Morgen ging sie in aller Frühe aus dem Haus – ohne Ulrika, die es vorzog, zu Hause zu bleiben – und kehrte erst bei Sonnenuntergang müde, mit schmerzenden Füßen, ihr Medizinkasten um einiges leichter, zurück. Die Abende brachte sie damit zu, Verbände zu rollen, Skalpelle zu schärfen, Kräuter zu sortieren, die sie auf dem Forum gekauft hatte.
Selene war bereit. Sie war gewiß, daß in dieser Stadt ihre Bestimmung wartete, und sie hoffte, sie würde sie erkennen.
53
Mit einem Ruck hob Ulrika den Kopf und sah einen blonden Haarschopf vom Fenster verschwinden. Er hatte sie also wieder bespitzelt, der flachshaarige Junge. Sie legte ihr Buch nieder, stand vom Bett auf und schlich auf Zehenspitzen durch das Zimmer.
Das fünftemal in dieser Woche hatte sie ihn dabei ertappt, daß er ihr nachspionierte. Manchmal, wenn sie durch den Innenhof ging, spürte sie seinen Blick, der ihr folgte; und einmal, als sie ihre Mutter zum Tor zur Straße begleitet hatte, hatte sie gesehen, daß der Junge sich im Gebüsch versteckt hatte.
Sie spähte zur Tür hinaus. Der Korridor war leer. Unten im Hof waren die Sklaven dabei, die Fackeln anzuzünden. Ulrika war erstaunt. Sie war so in ihr Buch vertieft gewesen, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie spät es geworden war. Die Sonne war kurz vor dem Untergang; Selene war noch nicht zurück.
Ulrika trat aus ihrem Zimmer und hielt nach beiden Seiten Ausschau. Gegenüber wurde eine Tür geöffnet, und zwei Leute kamen heraus, Paulinas Gäste, ein Senator und seine Frau. Ulrika beobachtete sie. Die Leute, die in dieses Haus kamen, waren immer sehr elegant gekleidet; die Männer wirkten vornehm und die Frauen sehr sicher. Sie hatten eine besondere Art zu sprechen – ihr Griechisch war absolut rein und gewählt; selbst ihr Gelächter war anders, höflich und zurückhaltend. Ulrika war fasziniert von Paulinas Freunden; und sie fand sie fürchterlich.
Der Senator und seine Frau stiegen zum Innenhof hinunter, und im selben Moment gewahrte Ulrika aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie fuhr herum und sah gerade noch, wie der Junge in eine Türnische zurückwich.
»Warte!« sagte sie. »Lauf nicht weg.« Sie rannte durch den Korridor und kam zu einer geschlossenen Tür. Einen Moment zögerte sie, dann machte sie sie auf. Dahinter war ein unbewohntes Gästezimmer, ähnlich ihrem eigenen.
»Bitte, komm doch heraus«, sagte Ulrika und ging hinein. Sie blieb stehen und lauschte, hörte aber nur von unten das Lärmen der eintreffenden Gäste. Wieder rief sie den Jungen, wechselte diesmal von Griechisch zu Aramäisch. »Kannst du mich verstehen? Du brauchst keine Angst zu haben. Ich möchte so gern mit dir reden.«
Sie ging tiefer ins Zimmer. Als sie sah, daß die Vorhänge am Fenster sich bewegten, obwohl kein Lüftchen ging, sagte sie bittend: »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Bitte, komm doch heraus.«
Sie hielt den Blick auf die Vorhänge gerichtet. »Ich gehe nicht von hier weg«, sagte sie entschlossen. »Ich bleibe, bis du herauskommst.«
Selene trat aus dem ärmlichen Wohnhaus am Fluß und sah mit Schrecken, wie spät es geworden war. Sie hatte zu lange bei dem kleinen Kind verweilt, dessen Mutter sie voller Sorge ins Haus gezogen hatte, weil das Kind so teilnahmslos war und nicht essen wollte. Nun versank die Sonne schon fast hinter den Hügeln, und sie befand sich immer noch in diesem schmutzigen Elendsviertel am Fluß.
Sie drückte ihren Medizinkasten fest an die Brust, bog in die erste Gasse ein, die vom Tiber wegführte und eilte in Richtung zum Esquilin.
Plötzlich jedoch versperrte ihr eine grölende Menge, die um die Ecke bog, den Weg. Die Leute verlangten mit lauten, zornigen Stimmen
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