Seelenfeuer
namens Herodas, hat mir erzählt, daß die Ärzte aus der Stadt, die früher gekommen sind, um Beistand zu leisten, sich schon lange nicht mehr sehen lassen, weil die Zahl der Hilfebedürftigen so groß ist.
Es war entsetzlich. Diese bedauernswerten Männer und Frauen – es sind lauter abgeschobene Sklaven, Rikki! In dieser grausamen Stadt ist es anscheinend üblich, kranke oder verletzte Sklaven, oder auch solche, die zu alt sind, zum Tempel des Äskulap zu bringen und sie dort auszusetzen. Die Priester sind machtlos dagegen. Alles ist völlig verwahrlost. Und die, die normalerweise in den Tempel kommen würden, um dort Heilung zu suchen, bleiben weg. Die Folge ist, daß die Kasse des Tempels leer ist, und die Brüder können den obdachlosen Sklaven kaum noch helfen.«
Selene nahm Ulrika bei den Händen und zog sie neben sich aufs Bett. »Aber jetzt ist es soweit, Rikki«, sagte sie leidenschaftlich. »Der Moment ist gekommen. Ich weiß jetzt, wo meine Bestimmung liegt.«
Ulrika sah wie gebannt in das Gesicht ihrer Mutter, sah die geröteten Wangen, die blitzenden Augen, spürte die Leidenschaft.
»Sobald ich diese Insel sah«, fuhr Selene fort, »wußte ich es. Ich erkannte, daß dies das Ende meines langen Weges ist, der Grund für alles, was mir bisher geschehen ist. Andreas hatte recht. Er hatte recht, Rikki. Meine Bestimmung liegt hier in Rom.«
Selene umklammerte Ulrikas Hände so fest, daß es dem Kind weh zu tun begann. Eine ungeheure Kraft flutete von den Händen ihrer Mutter in die ihren. Wie wunderbar, dachte Ulrika. Wie herrlich, so sicher sein zu können, so genau zu wissen, wohin man gehört.
»Und was willst du nun tun, Mutter?« fragte sie, ebenfalls erregt jetzt, mitgerissen von Selenes Feuer.
»Ich werde auf der Insel arbeiten, Rikki. Sie kann wieder zu der Zufluchtsstätte werden, zu der sie ursprünglich bestimmt war. Das ist der Grund, warum ich hierhergeführt wurde. Ich werde alle Fähigkeiten und alles Wissen, die ich mir auf meiner langen Wanderschaft angeeignet habe, auf dieser Elendsinsel einsetzen, die die Götter verlassen zu haben scheinen.«
Impulsiv ließ Selene Ulrikas Hände los und nahm ihre Tochter fest in die Arme. »Wir werden zusammenarbeiten«, sagte sie. »Ich lehre dich alles, was ich weiß. Ich gebe es dir weiter, meine Tochter, damit der Traum niemals vergehen wird.«
54
Anfangs waren die Priester und Brüder verwundert über Selenes tägliches Erscheinen auf der Insel, dann begannen sie, ihren Motiven zu mißtrauen, doch als sie einmal von ihren guten Absichten überzeugt waren, waren sie nur noch unendlich dankbar.
»Viele Ärzte aus der Stadt pflegten hierherzukommen und zu helfen«, berichtete Herodas Selene. »Manche kamen nur einen Tag im Monat, andere öfter, um sich in den Dienst des Gottes zu stellen. Es gab eine Zeit, wo wir auf unseren Tempel stolz waren, und der Gott Wunder wirkte. Aber dann begann man, uns die abgeschobenen Sklaven zu bringen, es wurden immer mehr, und du siehst, was jetzt aus unserem Tempel geworden ist.«
Das Innere des Tempels war so wie alle anderen Heiligtümer des Äskulap: Eine lange Basilika mit einem überlebensgroßen Standbild des Gottes an einem Ende, der Rest des Raumes leer, um den Pilgern Platz zu lassen, die sich hier in der Hoffnung niederlegen wollten, daß der Gott sie im Schlaf heilen würde. Inkubation wurde dieser Heilschlaf genannt, wo der Gott dem Hilfesuchenden in Gestalt eines Priesters oder Arztes erschien und ihn behandelte oder ihn belehrte, was er tun müsse, um geheilt zu werden. An den Wänden standen die Dankesopfer jener, die geheilt worden waren, steinerne oder Terrakotta-Nachbildungen der Körperteile oder -zonen, die wieder gesund geworden waren. Doch sie waren verstaubt und viele offensichtlich sehr alt. Selene wußte, weshalb hier keine Dankesgaben neuerer Zeit zu sehen waren: Die Mengen der ausgesetzten Sklaven ließen anderen Hilfesuchenden keinen Raum. Unermüdlich wanderten die Priester und Brüder unter den Kranken umher und verteilten zu essen und zu trinken, doch wirklich helfen konnten sie ihnen nicht.
»Die Leute werfen ihre Sklaven weg wie Abfall«, sagte Herodas bitter. »Und das Gesetz erlaubt es. Dann liegen diese Unglücklichen hier und können nur noch sterben. Wir können ihnen nicht helfen.«
Herodas war ein gebrechlicher alter Mann mit schlohweißem Haar und zitternden Händen. Während der Herrschaft von vier Kaisern hatte er den Tempel gehütet; sehen zu müssen, wie
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