Seelenfeuer
der Seeleute, wenn sie die Segel stellten oder Bilgenwasser ausschöpften, oder sie unterhielt sich mit dem Schiffszimmermann, während dieser Ersatzruder schnitzte. Sie konnte aber auch stundenlang an der Reling stehen und mit großen ernsten Augen auf das Mittelmeer hinausblicken, das viele Jahre zuvor ihr Vater als Sklave in Ketten überquert hatte.
Es war eine ruhige Überfahrt ohne Zwischenfälle, dennoch jubelten die Passagiere, als Roms Hafen Ostia in Sicht kam. Selene stand an der Reling, das Gesicht in den Wind gedreht, und dachte, wieder ein neues Land. Mit neuen Menschen und neuen Bräuchen. Was wird Rom mir bringen? Welchen Namen werde ich hier tragen?
Ein Gefühl tief im Innern sagte ihr, daß dies das letzte fremde Ufer war, auf das sie ihren Fuß setzen würde; daß die Jahre unsteter Wanderschaft bald beendet sein würden. Hier endlich werden mir die Götter offenbaren, was sie mit mir im Sinn haben. Hier endlich wird die Verschmelzung meines wahren Selbst mit meiner Berufung als Heilerin stattfinden, und ich werde ganz sein – wenn ich auch noch nicht weiß, wie es geschehen wird.
Sie dachte an Mera, eine bescheidene Frau von bescheidener Herkunft, die den Ring Julius Cäsars von der Hand eines sterbenden Prinzen gezogen hatte. Sie erinnerte sich ganz unerwartet an den alten Ignatius, der mit den Wüstenräubern gekämpft hatte, um sie zu beschützen, und dessen wunderbarer durchsichtiger Stein ihr in kalten Nächten in fremden Ländern Feuer gespendet hatte. Sie dachte sogar an Kazlah, dessen bevorzugte ›Medizin‹ ein Trank aus Wein mit zerstoßenen Smaragden und Rubinen gewesen war, der die Kranken nur noch kränker gemacht hatte. Wie mochte er das Geheimnis der Herstellung von Hekates Trank verwertet haben? Hatte er es schließlich als Waffe gegen Lasha gebraucht? Weiter wanderten ihre Gedanken zu Fatma, der weisen Frau aus der Wüste, die das geheime Wissen ihrer Vorfahrinnen mit ihr geteilt hatte, das sie jetzt nach Rom mitbrachte. Und sie erinnerte sich mit Liebe an Rani, die so viel geopfert hatte, um sich der Heilkunst widmen zu können; die auf Ehe und Kinder verzichtet, ihr Frausein verleugnet hatte, um in einer Männerwelt tätig sein zu können.
Sie dachte auch an ihre Tochter, Zeugnis ihrer Liebe zu Wulf. In Rom werden wir zusammenarbeiten, dachte sie. Mein ganzes Wissen will ich an Ulrika weitergeben, damit es nicht mit mir stirbt.
Und schließlich dachte sie an Andreas. Ihre Liebe zu ihm schien ihr so groß wie das weite Meer und tiefer als seine grünen Tiefen unter ihr. Und doch hatte sie ihn verloren; ihr Traum war zerbrochen. Aber in Rom vielleicht, wenn er aus Britannien zurückkehrte, wenn die Götter es erlaubten …
Vielleicht war mein Leben nur das Vorspiel zu diesem Augenblick, dachte Selene erregt, als das Schiff sich dem Hafen näherte. Die Götter haben mich vorbereitet, und nun bin ich gerüstet.
51
»Rom ist eine gefährliche Stadt, Selene«, hatte Andreas gewarnt. »Besonders für eine Frau allein. Geh zu Paulina. Sie ist eine alte Freundin von mir und wird dir weiterhelfen.«
Klein und bescheiden hatte sich Selene das Haus Paulinas vorgestellt, und die Frau selbst Mutter Mercia ähnlich. Die Villa auf dem Esquilin-Hügel und die Frau, die sie bewohnte, entsprachen in nichts ihren Erwartungen.
Gleich an ihrem ersten Tag in Rom hatten sich Selene und Ulrika bei strahlendem Herbstwetter auf den Weg zum Esquilin gemacht. Die Straße, in der Paulinas Villa stand, war wenig bemerkenswert, von einer einzigen langen Mauer abgegrenzt, hinter der sich die Prachthäuser der Reichen vor dem Auge der Öffentlichkeit verbargen. Durch eines der in die Mauer eingelassenen Tore traten Selene und Ulrika in einen herrlichen Garten voll schattenspendender Bäume und duftender Blumen. Das Plätschern der Springbrunnen begleitete sie auf dem Weg ins Atrium, hinter dem sie das Peristyl sehen konnten, den von Säulen umgebenen Innenhof des Hauses.
Selene war verblüfft über all den Luxus und die Pracht. »Paulina ist Witwe«, hatte Andreas ihr erzählt. »Ihr Mann, Valerius, und ich waren enge Freunde. Sie lebt jetzt allein in dem Haus, das er ihr hinterlassen hat. Sie ist einsam, ich weiß, sie wird sich über deine Gesellschaft freuen.«
Musik und Gelächter drangen aus einem der Räume rund um den Innenhof, die Tür wurde geöffnet, und eine Frau trat heraus. In aristokratischer Haltung durchschritt sie das Peristyl und kam ins Atrium.
Paulina Valeria war mittelgroß
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