Seelenfeuer
und zierlich gebaut. Die Haut ihres Gesichts war fein und sehr hell, als meide sie jeden Sonnenstrahl. Das braune Haar war zu einer kunstvollen Pyramide kleiner Löckchen aufgetürmt. Sie war etwa vierzig Jahre alt, weit jünger, als Selene erwartet hatte.
Paulina musterte Selenes einfaches Leinengewand und die bäuerlichen Sandalen mit einem kurzen Blick. Auf Ulrika lag ihr Auge ein wenig länger – Selene meinte, einen Schatten der Mißbilligung über ihre Züge huschen zu sehen –, dann sagte sie auf lateinisch: »Ich bin Paulina Valeria. Ihr wollt zu mir?«
Selene antwortete auf griechisch. »Meine Tochter und ich sind gerade erst in Rom angekommen. Ich bin eine Freundin von Andreas, dem Arzt, und er schlug mir vor, dich aufzusuchen.«
Die schönen topasfarbenen Augen flackerten. »Ich verstehe. Willkommen in Rom. Seid ihr das erstemal hier?«
»Ja. Meine Tochter und ich kommen aus Alexandria und sind mit Rom nicht vertraut. Wir kennen niemanden außer Andreas.«
»Ach ja, Andreas. Wie geht es ihm?«
»Er ist auf der Reise nach Britannien.«
»Ich weiß. Ich habe ihn vor drei Monaten nach Ostia begleitet. Hatte er aus Alexandria eine gute Abreise?«
»O ja. Das Schiff lief bei gutem Wetter aus.«
Paulina schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Wo seid ihr untergekommen?«
Als Selene ihr die Herberge in der Nähe des Forums nannte, wo sie und Ulrika die vergangene Nacht verbracht hatten, lächelte Paulina ohne Wärme und sagte: »Dann müßt ihr hierher kommen, in mein Haus. Der Aufenthalt in Herbergen ist immer teuer und nicht ganz ungefährlich. Ihr seid Andreas’ Freunde, also seid ihr auch meine Freunde. Ich lasse eure Sachen von einem Sklaven holen.«
Sie rief einen Sklaven, der sie in ihre Zimmer führen sollte. Ehe sie das Atrium verließ, sagte sie noch: »Ihr bleibt selbstverständlich solange ihr wollt.« Dann warf sie einen Blick auf Ulrika. »Wie alt ist deine Tochter?«
»Sie wird im nächsten März dreizehn.«
Paulina schien einen Moment zu überlegen. »Das Haus ist groß«, meinte sie dann. »Ein Kind kann sich hier leicht verlaufen. Und der Park hinter dem Haus ist sehr weitläufig. Du wirst ihr sicher ans Herz legen wollen, nicht herumzuwandern, sondern immer in der Nähe eurer Räume zu bleiben.«
Auf dem Weg durch den Innenhof kamen sie an dem Zimmer vorüber, aus dem die Musik zu hören war. Das Gespräch drinnen war laut.
»Ich verstehe gar nicht, warum Amelia ihn geheiratet hat. Er kommt doch aus ganz kleiner Familie«, sagte jemand. »Weil er schön und reich ist«, kam die Antwort, der schallendes Gelächter folgte. »Gut«, meinte eine Frau, »die Familie hat Geld, aber doch keinen
Namen.
Amelia hat sich zum Gespött gemacht. – Ah, hier ist Paulina! Fragen wir sie doch einmal, was sie von der armen Amelia hält.«
Doch als Paulina ins Zimmer trat, erstarb das Gelächter. Selene hörte Getuschel und stellte sich die neugierigen Blicke der Gäste vor, die ihnen durch die offene Tür folgten.
Ulrika sah sich staunend um, während sie mit ihrer Mutter durch den Innenhof ging. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß dies alles einer einzigen Person gehörte. Und da fiel ihr Blick plötzlich auf einen Jungen, der, zwei oder drei Jahre älter als sie selbst, einen der Wege des bepflanzten Innenhofs rechte. Verblüfft starrte sie ihn an. Er hatte blondes Haar und blaue Augen und war sehr groß. Als er, ihren Blick spürend, von der Arbeit aufsah, war er so verdutzt wie sie. Mit großen Augen schaute er sie an, und der Rechen in seiner Hand war vergessen.
Von ihren jahrelangen Reisen gewohnt, sich auf immer neue Gegebenheiten einzustellen, hatten Selene und Ulrika keine Mühe, sich im Haus des Valerius zurechtzufinden. Sie legten sich an diesem ersten Tag, noch mitgenommen von der langen Schiffsreise und überwältigt von den vielen neuen Eindrücken, früh schlafen.
Ulrika, sehr wortkarg seit dem Tag, an dem Selene ihr eröffnet hatte, daß sie Alexandria verlassen würden, wünschte ihrer Mutter nur kurz gute Nacht, ehe sie in ihrem Zimmer in das saubere Bett kroch. Sie dachte an den Jungen, den sie im Hof gesehen hatte.
Selene, die im Nebenzimmer lag, konnte keinen Schlaf finden. Ihr Körper war erschöpft, doch ihr Geist war hellwach. War diese Stadt, war Rom nun endlich ihr Zuhause? Sie glaubte zu fühlen, daß es so war. Hier war ihre Familie, die mächtigen Herrscher des Reiches, Männer und Frauen, die ihre Blutsverwandten waren. Und hier auch war Andreas’
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