Seelenfeuer
Heim, in das er eines Tages aus Britannien zurückkehren würde. Aber was sonst wartete in Rom auf sie? Ihr Medizinkasten stand am Fuß ihres Bettes bereit, zerkratzt und angeschlagen, aber wohlgefüllt mit all den Heilmitteln, die sie in den Jahren ihrer Wanderschaft gesammelt hatte.
»Die Menschen in Rom brauchen dich«, hatte Andreas gesagt. »In Rom gibt es keine Asyle für die Kranken, wie du sie in anderen Städten gesehen hast, es gibt kein Tempelkrankenhaus, wie du es hier in Alexandria aufgebaut hast, es gibt keine Zuflucht, die sie bei Schmerz und Leiden aufsuchen können. Deine Bestimmung liegt in Rom.«
Die Lider wurden Selene schwer. Ihre Gedanken wanderten zu Paulina. Was bedeutete sie Andreas, und was er ihr?
Während Selenes Atemzüge tiefer und langsamer wurden, sah sie Andreas vor sich, und der alte Schmerz, die alte Sehnsucht brachen wieder auf. Sie liebte ihn so sehr wie am ersten Tag.
52
»Die Leute, die dort oben leben, sind unsere Verwandten, Rikki«, sagte Selene mit Stolz. »Wir sind vom selben Blut wie sie.«
Sie standen am Fuß des Palatin-Hügels und schauten zu den von Zypressen beschatteten Terrassen und Säulenhallen der Adelspaläste hinauf. Selene versuchte noch einmal, die komplizierten Familienbande zu erläutern, um sie Ulrika begreiflich zu machen.
»Augustus, der erste Kaiser«, erklärte sie, das wiederholend, was Andreas ihr an dem Abend in Mutter Mercias Räumen dargelegt hatte, »war Julius Cäsars Großneffe. Seine Schwester Octavia heiratete Marcus Antonius. Ihre gemeinsame Tochter Antonia heiratete Drusus und hatte mit ihm zusammen zwei Söhne – Germanicus und Claudius. Und dieser Claudius ist jetzt Kaiser des römischen Reiches. Er ist zwar nur entfernt mit uns verwandt, Rikki, aber er ist unser Verwandter.«
Etwas später besuchten sie das Heiligtum des göttlichen Julius Cäsar, einen Rundtempel, wo die Römer ihm ihre Verehrung darbringen konnten.
»Er war dein Urgroßvater, Rikki«, sagte Selene. »Die Familie der Claudier, die jetzt in Rom an der Macht ist, leitet ihr Recht zu herrschen von dem Tröpfchen Julierblut ab, das in ihren Adern fließt. Aber dein Blut, Rikki, ist rein; du bist eine
direkte
Nachkommin Julius Cäsars. Sein Sohn war dein Großvater.«
Ulrika hörte ihr schweigend zu, während sie das überlebensgroße Standbild des Mannes musterte, den sie verachtete. Sie schämte sich ihrer Blutsbande mit ihm, denn er war der erste gewesen, der mit seinem Heer in die Rheingebiete eingefallen war und das Volk ihres Vaters unterworfen hatte.
Sie wollte mit den Menschen und mit dieser Stadt nichts zu tun haben. Mit einer brüsken Bewegung wandte sie sich vom Standbild Cäsars ab und richtete den Blick fest nach Norden.
Jeden Tag ging Selene, die zunächst Schwierigkeiten hatte, sich in der Riesenstadt zurechtzufinden, schon morgens los und streifte durch die Straßen, bis ihre Füße schmerzten, prägte sich den Verlauf von Straßen und Gassen ein, die Standorte der unzähligen Monumente, redete mit den Leuten, und bald bekam sie ein Gefühl für diese Stadt. Ihren Medizinkasten hatte sie stets bei sich und unterbrach ihre Erkundungswanderungen oft, um Hilfe zu leisten. Es gab, wie Andreas gesagt hatte, keinen Ort, wohin die Kranken und Invaliden dieser Stadt sich hätten wenden können.
Rom war, wie Selene bald merkte, eine Stadt mit zwei Gesichtern. Es zeigte sich finster und grausam auf der einen Seite, mit lichtlosen Gassen, wo die Menschen in stickigen Unterkünften zusammengepfercht waren. Zu Tausenden hockten hier die Menschen ohne Arbeit müßig in der Sonne des späten Nachmittags und ertränkten ihre Unzufriedenheit in dem Bier, das die Stadtregierung ihnen zuteilte.
Das andere Rom war jenes der Reichen, die wie Paulina in prächtigen Häusern hinter hohen Mauern lebten, abgehoben von der Masse, die sie beherrschten, ohne an ihrem Leben Anteil zu nehmen.
Selene lernte schnell, daß es ratsam war, bei Sonnenuntergang nach Hause zu eilen. Wenn der Tag zur Neige ging, ergriffen gefährliche Elemente, die in ihrer Hoffnungslosigkeit vor nichts zurückschreckten, Besitz von den Straßen. Kein Wunder, daß die Fenster der Häuser vergittert, die Türen mit schweren Riegeln versehen waren. In der römischen Nacht gedieh das Verbrechen.
Ihre Gastgeberin bekam Selene selten zu Gesicht, doch sie stellte fest, daß Paulina im Gegensatz zu dem, was Andreas gesagt hatte, niemals allein war. Immer waren Gäste in der Villa, abends wurde in
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