Seelenfeuer
Weinbecher.
»Helft mir ihn aufzusetzen«, sagte sie zu den Umstehenden aufblickend.
»Was gibst du ihm?« fragte Nemesis, der über sie gebeugt stand.
»Fingerhutblätter. Das verlangsamt den Herzschlag und lindert den Schmerz.«
»Aber meiner Meinung nach ist es nicht das Herz.« Nemesis wandte sich Paulina zu. »Und der Fingerhut ist giftig. Das weiß jeder.«
Auch die anderen sahen nun Paulina an. Einer fügte hinzu: »Wir haben doch alle gesehen, wieviel Maximus gegessen hat.«
»Bitte!« sagte Selene. Sie versuchte, Maximus aufzurichten, aber er war zu schwer für sie. »Es
ist
sein Herz. Fühlt seinen Puls, wenn ihr mir nicht glaubt.«
Nemesis warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Die Pulse befördern Luft. Sie haben mit dem Herzen nichts zu tun.«
»Du irrst dich.«
»Tut doch etwas!« rief Juno außer sich.
Einen Moment lang war Paulina unschlüssig. Dann befahl sie dem Sklaven: »Hilf ihr, ihn aufzusetzen.«
Nemesis machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte hinaus.
Als die anderen sie umdrängten, um zu sehen, was sie tat, sagte Selene: »Bitte geht weg. Er braucht Luft.« Sobald Maximus aufgerichtet war, flößte ihm Selene vorsichtig den Wein ein.
Als der Becher leer war, trugen zwei Sklaven Maximus zu einer Liege und legten ihn darauf nieder.
»Schiebt ihm Kissen in den Rücken«, sagte Selene. »Dann atmet er leichter.« Sie nahm seinen Arm und fühlte den rasenden Puls. Manchmal wirkte Fingerhut augenblicklich, manchmal trat die Wirkung langsam ein, und manchmal half das Mittel überhaupt nicht.
Alle standen wie gebannt, die Augen auf Maximus gerichtet. Er lag stöhnend da, krampfhaft nach Luft schnappend. Während Selene die Hebungen und Senkungen seines Brustkorbs beobachtete, flehte sie im stillen Isis um Hilfe an.
Ein Windstoß fegte durchs Zimmer und schwang die Lampen hin und her, daß ihre Ketten klirrten. Keiner sprach ein Wort. Selene sah auf Maximus’ Fingernägel hinunter; sie waren blau angelaufen. Dann schaute sie seine Fesseln an; sie waren geschwollen. Mit einer gewissen Erleichterung stellte sie fest, daß Maximus ein Herzleiden hatte, das, wenn er diesen Anfall überleben sollte, unter Kontrolle gehalten werden konnte.
Es war grabesstill in der hell erleuchteten Villa auf dem Esquilin. Während die Leute in den umliegenden Häusern sich in ihre Schlafräume zurückzogen, dachte hier keiner an Schlaf. Unverwandt beobachteten Paulina und ihre Gäste den stöhnenden Maximus.
Nach langer Zeit fühlte Selene, daß der Pulsschlag sich verlangsamte. Die anderen bemerkten, daß Maximus leichter atmete, sein Gesicht wieder Farbe bekam.
»Er braucht jetzt viel Ruhe«, sagte Selene, während Sklaven daran gingen, den schlafenden Mann in eines der Gästezimmer hinaufzutragen. »Aber es gibt keinen Grund, weshalb er nicht noch viele Jahre leben sollte. Er hat ein Herzleiden, das mit täglichen Gaben von Fingerhut gemildert werden kann.«
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagte Paulina. »Maximus ist einer meiner ältesten und liebsten Freunde. Wenn er gestorben wäre …« Ihre Stimme zitterte.
Paulina und Selene saßen allein in einem kleinen Empfangsraum neben dem Atrium und tranken warmen Wein mit Honig. Die Gäste waren nach oben gegangen und schliefen; nur Juno saß auf und wachte bei ihrem Mann.
»Maximus wäre heute abend beinahe gestorben«, sagte Paulina. »Ich habe den Schatten des Todes auf seinem Gesicht gesehen. Wie kann ich es dir vergelten, daß du ihn gerettet hast?«
»Spende dem Tempel des Äskulap auf der Tiberinsel.«
»Ein Opfer, ja.«
»Geld für die Priester und die Brüder wäre besser.«
»Ganz wie du willst. Aber wie kann ich es dir lohnen, Selene?«
»Mir hast du es schon hundertfach gelohnt, Paulina, indem du mir und meiner Tochter hier Obdach gewährt hast.«
»Das ist doch nichts besonderes«, erwiderte Paulina beschämt.
»Doch. Für uns ist es ungeheuer viel, denn – wir haben kein Geld. Wir haben nicht ein Silberstück übrig.«
Paulina sah Selene erschrocken an. »Aber –« begann sie. »Aber wohin gehst du denn jeden Tag? Du scheinst doch hart zu arbeiten?«
Als Selene ihr berichtete, war sie einen Moment sprachlos. »Das wußte ich nicht«, sagte sie dann. »Und auch nicht, daß du eine Heilkundige bist. Andreas schrieb mir in seinem Brief nichts davon.«
»Du hast einen Brief von Andreas bekommen?« fragte Selene.
»Erst letzte Woche, ja.«
Schmerz durchzuckte Selene. Er weiß, daß ich hier bin, und
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