Seelenfeuer
doch hat er mir nicht geschrieben. Aber warum sollte er auch? dachte sie. Die Verbindung zu ihm war zerbrochen. Er hatte ihr die Elfenbeinrose zurückgegeben.
»Wie geht es ihm?« fragte sie. »Ist er gesund?«
»Er klagt ein wenig über die Feuchtigkeit und die Kälte in Britannien.«
Und wann kehrt er nach Rom zurück? wollte Selene fragen, doch sie schwieg. Andreas hatte an Paulina geschrieben, nicht an sie. Was er an Neuigkeiten mitzuteilen hatte, war nicht für Selene bestimmt.
»Darf ich fragen«, sagte Paulina höflich, »woher du Andreas kennst?«
Selene dachte an ihren sechzehnten Geburtstag und wurde tieftraurig. Ihre Tage waren ausgefüllt mit der Arbeit im Tempel, abends kam sie vor Müdigkeit kaum zum Nachdenken, doch die Sehnsucht nach Andreas, der Schmerz über seinen Verlust, verließen sie nie. Nachts träumte sie von ihm, und wenn sie erwachte, wurde sie verzehrt von schmerzlichem Verlangen nach seiner Berührung.
»Ich bin Andreas vor vielen Jahren begegnet«, sagte sie ruhig. »In Antiochien, in Syrien.«
Paulino hob die fein gezupften Augenbrauen. »Dann seid ihr schon sehr lange Freunde.«
»Unsere Freundschaft ist seltsame Wege gegangen. Wir trafen uns und trennten uns vor Jahren. Im letzten Sommer trafen wir uns ganz durch Zufall in Alexandria wieder.«
»Ah ja. Aber du bist jung. Du mußt noch ein Kind gewesen sein, als du Andreas zum erstenmal begegnet bist.«
»Ich war sechzehn. Er lehrte mich die Heilkunst – wie Mera, die Frau, die mich großgezogen hat.«
»Dann bist du also eine
femina medica«,
sagte Paulina bewundernd. Als sie Selenes verständnislosen Blick sah, erklärte sie: »So nennen wir alle unsere medizinisch gebildeten Frauen. Ich zähle einige zu meinen Bekannten. Die meisten sind allerdings vor allem Hebammen. Wo hast du deine Ausbildung erhalten?«
Selene gab ihr einen kurzen Bericht ihrer Lehrjahre, die sie von Meras kleinem Häuschen in Antiochien schließlich in den Isistempel in Alexandria geführt hatten. Aber vieles ließ sie aus – Königin Lasha, Wulf, Rani und auch, daß sie von Julius Cäsar abstammte.
Paulina betrachtete Selene mit nachdenklichem Blick, während sie zuhörte. Und als Selene ihr von den unmenschlichen Zuständen berichtete, die sie auf der Tiberinsel vorgefunden hatte, von der Notlage der Priester dort und von ihrer Überzeugung, daß die Götter sie nicht zufällig in diesen Tempel geführt hatten, wurde Paulina plötzlich traurig. Eine solche Vision zu haben, dachte sie, muß wunderbar sein. Auch in meinen Augen leuchteten einst Hoffnung und Zukunftsglaube. Aber dieses Licht ist jetzt erloschen.
»Ich beneide dich«, sagte sie.
Selene verstand das nicht. Paulina hatte alles, was ein Mensch sich wünschen konnte: ein schönes Haus, einen guten Namen, viele Freunde, ein Leben voller Unterhaltung und Geselligkeit.
Als hätte Paulina ihre Gedanken gelesen, sagte sie leise: »Ich habe jung geheiratet, und mein Mann und ich haben gut miteinander gelebt. Er ist letztes Jahr gestorben. Ich habe mich an das Alleinsein noch nicht gewöhnt.« Sie sah Selene an. »Früher liebte ich die stillen Abende«, fuhr sie fort, »wenn ich an meinem Webstuhl saß oder Briefe schrieb und wußte, daß mein Mann in der Nähe war, in seinem Arbeitszimmer. Aber jetzt graut mir vor den Abenden und den Nächten. Die dunklen Stunden erscheinen mir so lang, dem Tod so ähnlich …«
»Wie ist dein Mann gestorben?« fragte Selene behutsam.
»Es war ein langes und schreckliches Sterben. Er wurde langsam vom Krebs aufgefressen«, antwortete Paulina. »Die besten Ärzte kamen ins Haus, aber keiner konnte ihn retten. Am Ende bat Valerius um Erlösung und schließlich befreite Andreas ihn von seinen Qualen …«
»Ach, das tut mir so leid«, sagte Selene.
Paulinas Augen waren feucht. »Jetzt fülle ich meine Abende mit Geselligkeit. Ich halte das Alleinsein nicht aus.«
»Ihr habt keine Kinder?«
»Wir hatten eine Tochter. Sie hieß Valeria. Sie starb vor fünf Jahren.«
Paulinas Schmerz war wie ein harter, scharfkantiger Stein, der sich in ihrer Brust festgesetzt hatte. Tag und Nacht war er da, und nichts konnte ihn vertreiben. Die Feste und Gäste, alle Musik und alles Gelächter, die Fackeln, die Licht und Wärme spendeten und die dunkle Nacht bannen sollten – all dies konnte den Schmerz nicht lindern.
Denn nichts war dem Tod eines Kindes vergleichbar. Geduldig hatte das kleine siebenjährige Mädchen in den Kissen gelegen und lächelnd zu
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