Seelenfeuer
seinen Eltern aufgesehen, um sie zu trösten und zu beruhigen in ihrem Kummer über den bevorstehenden Abschied. Und Paulina hatte nicht nur das siebenjährige Kind sterben sehen. Sie hatte das junge Mädchen gesehen, das Valeria hätte werden können, die junge Frau von zwanzig Jahren, die Mutter, die sie nun niemals werden würde. Viele Gesichter hatten von dem weißen Kissen zu ihr emporgelächelt; alle zum Tode verurteilt.
Sie wischte eine Träne fort und sagte: »Wir wollten andere Kinder, Valerius und ich, aber aus irgendeinem Grund bin ich nicht mehr schwanger geworden. Und dabei wünschte ich mir Kinder so sehr …« Paulina hielt inne, um sich zu fassen, und trocknete sich die Augen mit ihrem Taschentuch. Dann fuhr sie mit ruhigerer Stimme zu sprechen fort. »Als Valerius im Sterben lag, mußte ich ihm versprechen, wieder zu heiraten. Aber ich bin vierzig Jahre alt, Selene. Ich bin jetzt zu alt, um noch Kinder zu bekommen.«
»Du könntest eines annehmen.«
Paulina schüttelte den Kopf. »Das wollte Valerius auch. Er wollte den Sohn von entfernten Verwandten annehmen, die beim Einsturz eines Theaters umgekommen waren, aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Valeria war erst kurz vorher gestorben. Und ich wollte ein eigenes Kind. Aus meinem eigenen Leib.«
Selene lauschte dem Knistern des Feuers in der Kohlenpfanne und dachte, wie seltsam das Schicksal war, das im Leben der Menschen waltete. Sie erinnerte sich an Fatma, die das Kind, das sie neun Monate unter dem Herzen getragen hatte, nicht hatte haben wollen. Ihr hatte sie helfen können. Wie konnte Paulina geholfen werden? Merkwürdigerweise erinnerte sie sich plötzlich an etwas, das sie einmal in Persien gesehen und was, wie Rani ihr erklärt hatte, im Orient nichts Ungewöhnliches war: daß kinderlose Frauen, wenn sie verwaiste Säuglinge an die Brust nahmen, tatsächlich Milch hervorbrachten.
Selene wollte Paulina gerade von diesem Wunder erzählen, als aus dem Gang laute Rufe erschallten. Gleich darauf stürzte Ulrika ins Zimmer.
»Man hat mir gesagt, daß du hier bist«, rief sie atemlos.
Selene sprang auf. »Rikki!«
Ein Mann stürmte hinter ihr durch die Tür und packte Ulrika beim Arm. »Hab ich dich wieder erwischt«, schimpfte er. Dann gewahrte er Paulina, seine Herrin, und wurde rot. »Sie belästigt immer wieder die Sklaven«, murmelte er verlegen.
»Rikki«, sagte Selene, »ich dachte, du wärst im Bett und schläfst.«
Auch Ulrikas Gesicht war gerötet, aber nicht vor Scham, sondern vor Zorn. »Ich hatte meine Kissen unter die Decke gelegt. Ich war gar nicht da.«
Selene war sprachlos. Konnte dieses ungebärdige Wesen ihre Tochter sein?
»Das habe ich schon oft so gemacht«, fuhr Ulrika fort und riß sich von dem Mann los.
»Lucas«, sagte Paulina und stand auf. »Was geht hier eigentlich vor?«
»Sie hat sich mit einem der Sklaven angefreundet. Dauernd kommt sie zu ihm, und dann sprechen sie in einem unverständlichen Kauderwelsch miteinander.«
Selene starrte ihre Tochter fassungslos an. Ulrikas Gesicht verzog sich, als wollte sie zu weinen anfangen, aber es kam keine Träne. Ulrika hatte seit Jahren nicht mehr geweint, kam es Selene plötzlich zu Bewußtsein. Mit Ausnahme des Abends von Ranis Tod und jenem kurzen Augenblick, wo sie sich in Alexandria umarmt hatten, hatte Ulrika nicht mehr geweint, seit sie ein kleines Kind gewesen war.
»Er ist mein Freund!« rief Ulrika aufgebracht. »Ich bringe ihm Griechisch bei.«
Selene wandte sich an Paulina. »Ich bitte dich um Verzeihung.«
Paulina sah Ulrika an. »Wer ist der Junge, mit dem du befreundet bist?« fragte sie freundlich.
Ulrika warf ihr einen trotzigen Blick zu und schwieg.
»Eiric«, sagte der Aufseher. »Einer der Neuen aus Germanien.«
»Warum lehrst du ihn Griechisch?« fragte Paulina in unvermindert freundlichem Ton.
»Weil er niemanden versteht«, stieß Ulrika hervor.
»Er versteht sehr gut«, belferte Lucas. »Er ist nur starrköpfig. Spielt den Einfaltspinsel. Den kriegt man nur mit Schlägen zur Arbeit.«
»Er versteht wirklich nichts«, schrie Ulrika. »Deshalb schlägst du ihn. Dauernd peitschst du ihn aus und bist grausam zu ihm.« Mit flehendem Blick wandte sie sich Paulina zu. »Sie schlagen ihn nur, weil er nichts versteht. Das ist ungerecht.«
Selene starrte ihre Tochter immer noch an. Jetzt rannen ihr Tränen über das Gesicht. Tränen für einen unbekannten Sklaven?
Paulina sah den Aufseher scharf an. »Ist das wahr?«
Der Mann schien zu
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