Seelenfeuer
Ich selbst scheue mich vor dieser Reise. Aber wir haben keine Wahl. Du gehörst den Göttern, Selene. Du bist von ihnen gekommen, du mußt zu ihnen gehen. Du mußt tun, was sie gebieten.«
Selene war, als drehte sich das ganze Zimmer im Kreis. »Was – was meinst du damit?«
»Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich es dir sagen. Jetzt hole deinen Umhang. Wir müssen sofort aufbrechen.«
»Ich muß Andreas Bescheid sagen.«
»Dazu ist keine Zeit.« Mera faßte blitzschnell Selenes Arm. »Du wirst Andreas nichts sagen.«
»Ich muß!«
»Er hat keinen Platz in deinem Leben, Selene. Du mußt ihn vergessen.«
Entsetzen und Ungläubigkeit spiegelten sich auf Selenes Zügen. Sie sah den tödlichen Ernst in den Augen ihrer Mutter und meinte, die Welt um sie herum müsse einstürzen.
»Nein!« rief sie und versuchte, sich loszureißen.
»Selene, du schuldest mir Gehorsam, und der Göttin ebenso.«
»Ich reise nicht, Mutter.«
Ihre Blicke trafen sich, prallten hart aufeinander. Doch Mera hatte so etwas vorausgesehen und war gewappnet.
»Du mußt reisen«, sagte sie leise. »Es ist mein letzter Wunsch.«
»Wie meinst du das?«
»Ich werde bald sterben, Tochter.«
Mera ließ Selenes Arm los und ergriff ihre Hand, um sie an ihre Seite zu legen, wo die harte Geschwulst, so groß wie eine Orange jetzt, den Stoff ihres Gewandes straffte.
Selene schrie auf.
»Ich habe es dir verheimlicht«, sagte Mera, sich abwendend, »weil ich nicht wollte, daß du dir Sorgen machst. Ich wollte, daß du dich ganz auf deinen Eintritt in den Bund mit der Göttin konzentrieren kannst. Aber jetzt bleibt mir keine Wahl. Die Göttin gebietet, daß ich dich in die Wüste bei Palmyra führe und dir dort die letzten Belehrungen gebe.« Sie drehte sich wieder um und sah ihrer Tochter gerade ins Gesicht. »Mir bleiben nur noch wenige Tage, Selene. Meine Bestimmung ist erfüllt, und die deine mußt du jetzt übernehmen. Ich habe der Göttin gelobt, daß ich dich noch heute nacht nach Palmyra bringen werde, bevor ich sterbe.«
Selenes Gedanken rasten. Andreas – sie mußte es ihn wissen lassen.
»Komm, Tochter. Wir müssen uns beeilen.«
»Aber was tun wir denn in Palmyra?«
»Die Göttin wird dich wissen lassen, was sie mit dir im Sinn hat. Hier ist dein Umhang, Selene. Hol deinen Medizinkasten.«
Selene war wie versteinert. Ihre Mutter mußte den Verstand verloren haben!
»Aber ich kehre sofort nach Antiochien zurück, Mutter«, sagte sie. »Ich kehre zu Andreas zurück.«
»Wenn es dir so bestimmt ist. Ich glaube das allerdings nicht.«
»Ich bestimme mir selbst.«
Mera stand wartend an der offenen Tür. »Die Entscheidung liegt nicht in deiner Hand, Selene. Komm jetzt. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Sie eilten die Straße hinunter nach Süden, begleitet von der untergehenden Sonne, die hinter den Nachmittagswolken hervorgekommen war. Sie blickte nicht zu dem kleinen Haus zurück, das hatte seinem Zweck gedient; weder sie noch Selene, dessen war Mera sicher, würden es je wiedersehen.
Im Karawanenlager herrschte immer noch das Chaos. Soeben war ein Zug mit fünfhundert Kamelen aus Damaskus angekommen; ein noch größerer Zug stand unmittelbar vor dem Aufbruch nach Jerusalem. Selene folgte ihrer Mutter durch das lärmende Getümmel. Sie hielt den Medizinkasten fest, der an einem Gurt von ihrer Schulter hing, und stolperte ihrer Mutter hinterher, während tausend Fragen ihr durch den Kopf schossen. Was sollte sie tun? War ihre Mutter wirklich dem Tod nahe? Und warum mußten sie ausgerechnet nach Palmyra reisen?
»So, hier sind wir«, sagte Mera endlich atemlos und stellte den schweren Korb auf die Erde. »Wir haben zusammen einen Esel.«
Selene sah sich in dem qualmgeschwängerten, eingegrenzten Bezirk um. Sie sah, wie die Leute rundum ihre Zelte abbrachen, geschäftig umherliefen, um ihre Wasserkrüge zu füllen und schließlich ihre Tiere zu beladen. Sie war wie betäubt. Sie konnte nicht glauben, daß dies Wirklichkeit war. Andreas!
Sie sah, wie ihre Mutter sich aufrichtete und dabei eine Hand auf ihre Seite preßte. Ich sterbe bald, hatte sie gesagt.
Selene faßte ihren Arm. »Mutter –« sagte sie.
»Eine Weile geht es noch, Tochter. Aber das Opium wirkt nicht mehr.«
Da erinnerte sich Selene, wie oft ihre Mutter nachts aufgestanden war, um zu trinken. Selene hatte geglaubt, sie wäre nur durstig.
»Mutter«, rief sie entsetzt. »Du bist viel zu krank für diese Reise.«
»Es geht nicht anders, Selene. Warte
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