Seelenfeuer
nicht aus. Was sie tat, war viel schlimmer für ihn: Sie war einfach freundlich.
Seine Liebe wurde ihm zur Besessenheit. Er vernachlässigte seine Pflichten zu Hause und dachte Tag und Nacht einzig darüber nach, wie er Hestia für sich gewinnen könne. Und eines Tages hatte er die Lösung. Er hatte gesehen, daß solche Frauen durch Reichtum zu beeindrucken waren, daß reichen Männern mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde als armen. Der Junge war in seiner Naivität fest überzeugt davon, daß sie ihn erhören würde, wenn er nur reich genug wäre.
Er wußte, daß ein Leben als Frau eines Landarztes sie nicht befriedigen würde, und ihm war auch klar, daß sie nicht so lange auf ihn warten würde, bis er sein Glück gemacht hatte. Er brauchte den Reichtum sofort. Und er wußte, wie er zu erwerben war.«
Der Junge hatte von den Bernsteinjägern gehört, die unter Einsatz ihres Lebens bis ans Ende der Welt segelten, um Bernstein zu suchen. Es war allgemein bekannt, daß Bernstein zu den wertvollsten Gütern auf der Welt gehörte; eine kleine aus Bernstein geschnitzte Figur war so viel wert wie sechs Sklaven. Der Junge beschloß also, auf einem Schiff anzuheuern, dessen Fahrt zu den Bernsteingebieten ging, ein Jahr hart zu arbeiten und dann als reicher Mann zu Hestia zurückzukehren.
Andreas hielt inne. Als die Pause sich in die Länge zog, drehte Selene den Kopf, um ihn anzusehen. Die steile Falte zwischen den dunklen Brauen war verschwunden. Sein Gesicht war glatt und ausdruckslos, der Blick in die Ferne gerichtet. Als er schließlich wieder zu sprechen begann, schien seine Stimme von weither zu kommen. Er erzählte ihr, wie der Junge zu Hestia gegangen war und ihr von seinem Plan erzählt hatte. Zum erstenmal gab Hestia ihm Ermutigung. Sie versprach, auf ihn zu warten, und sagte, wenn er in der Tat mit Bernstein zurückkehren sollte, wollte sie seine ganz besondere Freundin sein. Seinen Eltern verriet er nichts von seinem Vorhaben. Bei Nacht und Nebel schlich er sich aus dem Haus und schlug den Weg zum Hafen ein, wo ein Mann gerade die Besatzung für ein Bernsteinschiff anheuerte.
Als der Schiffskapitän dem Jungen erklärte, er wäre zu jung und unerfahren für ein solches Unternehmen, schwor der Junge bei den Göttern, daß er härter arbeiten würde als jedes andere Besatzungsmitglied. Der Kapitän sah die Leidenschaft in den Augen des Jungen und heuerte ihn; danach erklärte er ihm die Vertragsbedingungen.
»Es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein besser gehütetes Geheimnis«, sagte Andreas, »als die Lage der Bernsteingebiete. Die wenigen Männer, die die Bernsteinschiffe ausrüsten, sind sehr darauf bedacht, das Geheimnis um jeden Preis zu bewahren, und da sie wissen, wie gern der gemeine Matrose seine Geschichten spinnt, haben sie ein Mittel erdacht, um ihre Leute zu ewigem Schweigen zu verpflichten.
Jedes Besatzungsmitglied muß einen Vertrag unterschreiben. Auf diesem Papier sind die Namen der Angehörigen und nahestehenden Personen aufgeführt, die man zurückläßt. Wer das Dokument unterzeichnet, weiß, daß dies die Versicherung des Kapitäns gegen Verrat ist. Sollte ein Seemann über die Bernsteingebiete sprechen, sich mit seinem Wissen brüsten, ganz gleich, in welcher Hafenkneipe der Welt, so wird das bekannt werden. Und dann wird der Schiffsunternehmer von den Leuten, deren Namen auf der Liste stehen, Vergeltung verlangen. Der Junge erzählte mir, daß er die Namen seiner Eltern niederschrieb und den Standort ihres Hauses in Korinth angab.«
Der Junge war, Andreas’ Bericht zufolge, am nächsten Tag abgesegelt, ohne seinen Eltern Lebewohl zu sagen, weil er sich so sehr schämte. Er war nur von seiner Leidenschaft zu Hestia getrieben und von den Visionen großen Reichtums. Die abenteuerliche Reise, weit über die Heraklessäulen hinaus hoch in den Norden, dauerte zwei Jahre, und in dieser Zeit wurde der Junge zum Mann.
Während Selene in den nun dünner fallenden Regen blickte und Andreas’ leiser Stimme lauschte, sah sie die Meereswogen, die so hoch waren wie Berge, sah grausige Seeungeheuer und das von Nebeln umhüllte Land der blauhäutigen Wilden. Sie litt die Qualen der Seekrankheit, die die Männer in den Wahnsinn trieb, den entsetzlichen Durst, als die Wasservorräte auf dem Schiff zur Neige gingen; sie sah die Männer an Skorbut sterben, um einen Fetzen verfaulten Fleisches kämpfen. Sie hörte den todbringenden Gesang der lockenden Sirenen auf den Felsen und spürte die bittere
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