Seelenfeuer
Pflicht. Du mußt herausfinden, wer du bist. Du mußt deinen Bruder suchen, damit ihr endlich miteinander vereint werdet …«
Wieder verfiel Mera in Schweigen, zu schwach, um weiterzusprechen. Als sie die Augen schloß, schien sie zu schlafen. Selene saß lange reglos da, den Kopf ihrer Mutter im Schoß. Dann regte sich das Gefühl; sie fröstelte, und heiße Tränen verschleierten ihren Blick. Du bist nicht meine wahre Mutter? fragte sie lautlos die Schlafende in ihren Armen. Aber wer ist dann …
Selene hob den Kopf und blickte über die leere Wüste zu den kahlen Hügeln am fernen Horizont. Hinter diesen Hügeln lag ihre Geburtsstadt Palmyra.
Ist sie noch dort, meine wahre Mutter? Und mein Zwillingsbruder Helios?
Wird Andreas mich dort finden, in jener Stadt? Wird er dieser Straße folgen und mich suchen? Oder soll ich gleich jetzt umkehren, um wieder nach Antiochien zu reisen, und einer Mutter und einem Bruder, die vielleicht in dieser fremden Stadt weilen, den Rücken kehren?
Selene begann zu weinen. Sie konnte es nicht annehmen, daß diese sanfte Frau nicht ihre wahre Mutter war. Diese Frau hatte ihre Kindertränen getrocknet und ihre Kinderängste besänftigt; hatte ihr die Phasen des Mondes und die Bewegungen der Sterne erklärt. Diese Frau hatte sie in die Geheimnisse der Heilkunst eingeführt; sie hatte ihr den Weg in ihre eigene Seele gezeigt und sie gelehrt, ihrer Seelenflamme zu begegnen.
Und diese einfache, liebevolle Frau hatte nächtelang über einer blauen Stola gesessen, damit ihre Tochter am wichtigsten Tag ihres bisherigen Lebens in ihrer wahren Schönheit leuchten konnte.
Nein, sagte sich Selene, ihr Schicksal wartete nicht in dieser fernen, unbekannten Stadt. Es wartete in Antiochien; ihr Schicksal war Andreas.
Als Mera wieder zu sprechen versuchte, strich Selene ihr die heiße Stirn und sagte leise: »Streng dich jetzt nicht mehr an, Mutter.«
»Nichts als Schlaf erwartet mich, Tochter. Bitte versprich mir, daß du die Wege wandeln wirst, die ich dir gezeigt habe, daß du die uralte Kunst des Heilens immer in Ehren halten und die Göttin niemals vergessen wirst. Du mußt jetzt die Verantwortung für dich und deine besondere Berufung übernehmen, Selene. Versprich es mir, Tochter.«
Weinend nahm Selene die Hand ihrer Mutter und versprach.
»Gut«, flüsterte Mera erleichtert. »Dann mach jetzt das Grab für mich bereit.«
»Nein!«
»Tote verwesen bei Mondlicht rascher als im Sonnenlicht, das habe ich dich gelehrt. Beeile dich. Es ist nicht mehr viel Zeit.«
Immer noch weinend richtete sich Selene vorsichtig auf und ließ Mera sachte auf die ausgebreitete Palla gleiten. Als sie davongehen wollte, hielt Mera sie noch einmal fest.
»Es ist töricht, das Sterben zu fürchten, Tochter«, sagte sie zärtlich. »Sterben ist wie einschlafen. Wenn ich erwache, werde ich mit der Großen Mutter vereint sein. Und du und ich, mein Kind, werden uns in der Auferstehung wiedersehen. Das verspricht uns die Göttin. Ich werde auf dich warten …«
Dennoch verspürte Mera Bedauern, während sie in der Stille lag und dem Knirschen des Sandes lauschte, in dem ihr Grab ausgehoben wurde. Wenn sie nur lange genug hätte leben dürfen, um zu erfahren, wer ihre Tochter war, und zu sehen, für welch großes Werk sie bestimmt war. Zum erstenmal in ihrem Leben wurde es Mera schwer, sich dem Gebot der Göttin zu fügen.
In den letzten Augenblicken ihres Lebens gewann Mera blitzartige Erkenntnis und hatte eine Vision. Den Kopf zur Seite gedreht, blickte sie voller Liebe auf die weinende Selene und dachte: Eines Tages wirst du nach Antiochien zurückkehren und wirst deinen geliebten Andreas suchen. Aber es wird nicht so sein, wie du jetzt erwartest; es wird ganz anders sein als du dir überhaupt vorstellen kannst …
Kurz vor Sonnenaufgang sprach Mera ein letztes Mal zu ihrer Tochter. »Bewahre dir immer die Freundschaft mit Isis«, sagte sie. Dann starb sie.
16
Als der Überfall kam, waren sie gerade dabei, das letzte Kamel zu beladen, und Ignatius sagte: »Ich habe überhaupt keinen Zweifel, daß du gleich bei unserer Ankunft in Palmyra eine Karawane nach Antiochien finden wirst. Und ich werde dafür sorgen, daß du bequem reisen kannst und nicht betrogen wirst.«
Im Licht des anbrechenden Tages, nachdem sie den letzten Stein auf Meras Grab gelegt hatten und das Lager abbrachen, um nach Palmyra weiterzuziehen, hatte Selene sich überlegt, bis zu diesem Ort mit Ignatius’ Gruppe weiterzureisen und
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