Seelenfeuer
hatte zwar immer wieder behauptet, daß ein Freund ihr auf der Straße folge und jeden Augenblick eintreffen müsse, aber daran glaubte Ignatius nicht. Wenn wirklich ein Freund unterwegs gewesen wäre, hätte er längst da sein müssen.
»Du bist berufen, Selene.« Meras Stimme war nur ein Hauch. »Du bist etwas besonderes. Dir ist ein besonderes Schicksal zugedacht, eine Bestimmung, auf die ich dich sechzehn Jahre lang vorbereitet habe und die du jetzt selbst suchen mußt. Ich habe keine Antworten für dich, Selene. Du mußt sie selber finden.«
Selene schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich verstehe nicht, wovon du sprichst, Mutter.«
»Hör mir zu, meine Tochter. Hör mir zu. Du mußt jetzt die Wahrheit erfahren …«
Während Selene mit gesenktem Kopf auf die ausgedörrten Lippen ihrer Mutter blickte, die mühsam die Worte formten, wich das gewaltige Schweigen der Wüste allmählich dem Heulen eines wütenden Sturms. Mera schilderte die Ereignisse jener Nacht vor sechzehn Jahren so lebendig, daß Selene alles vor sich sah: den vornehmen Römer und seine junge Frau; Meras kleines Haus am Stadtrand; die Geburt des ersten Kindes – eines Jungen, der den Namen Helios erhielt; dann die unerwartete und lebensbedrohende Geburt des zweiten – eines Mädchens namens Selene. Sie sah, wie die römischen Soldaten das Haus stürmten, wie Mera sich im Vorratsspeicher versteckte, wie sie, nachdem die Soldaten verschwunden waren, dem sterbenden Römer auf seinen Befehl den goldenen Ring vom Finger zog.
»Er sagte … daß du von den Göttern kommst, Selene. Die Göttin gab dich mir in meiner Einsamkeit, und dafür habe ich nun meinen Teil des Vertrags mit ihr erfüllt. Ich habe dich, wie es das Orakel befahl, nach Palmyra zurückgebracht, wo der Weg beginnt, der dich zu deiner Bestimmung führen wird.«
Selene blieb stumm, kaum fähig, die unglaubliche Geschichte ihrer Geburt zu fassen.
Mera hob zitternd die Hand. »Die Zeit ist da, Selene. Gib mir die Rose.«
»Die Rose?«
»Die Kette. Die ich dir am Tag deiner Einkleidung umgelegt habe. Jetzt mußt du sehen, was sie enthält, und ich muß dir erklären, was ihr Inhalt bedeutet.«
»Aber – ich habe die Rose nicht mehr, Mutter. Ich habe sie verschenkt.«
Mera riß entsetzt die Augen auf. »Du – hast sie verschenkt? Selene, was sagst du da?«
Selene drückte eine Hand auf die Brust, wo sie durch den Stoff ihres Gewandes Andreas’ Kette spüren konnte. »Ich – habe sie Andreas geschenkt. Wir haben uns einander versprochen. Er gab mir sein Auge des Horus, und ich …«
Ein Klagelaut drang aus Meras Mund, der schaurig durch die Nacht klang. Die Kamele schnaubten unruhig. Ignatius und seine Sklaven hoben erschreckt die Köpfe.
»Was habe ich getan?« wimmerte Mera und schlug sich mit kraftloser Faust auf die Brust. »Was habe ich getan? In meiner Furcht und meiner Torheit habe ich dich in Unwissenheit gelassen. Ich hätte dir längst die Wahrheit sagen müssen! Was habe ich getan?«
Schluchzend berichtete Mera ihrer Tochter von dem goldenen Ring, der nach den Worten des sterbenden Römers dem Mädchen alles über seine Herkunft und seine Bestimmung hätte sagen können. Er hatte eine Prägung gehabt – ein Gesicht und fremdartige Schriftzüge, die Mera nicht hatte lesen können. »Gib ihn ihr, wenn sie älter ist«, hatte der Römer gesagt. »Er wird sie zu dem führen, was ihr bestimmt ist.«
»Was soll dich jetzt führen, wo du den Ring nicht mehr hast?« fragte Mera weinend. »In der Rose war auch eine Locke vom Haar deines Vaters und ein Fetzchen Stoff von der Decke, die deinen Bruder nach seiner Geburt aufgenommen hat. Das sind mächtige Bande, Selene, die einzigen auf dieser Welt, die dich an deine wahre Familie binden. Und nun sind sie fort. Du bist von ihnen getrennt. Ach, was habe ich getan?«
Selene sah vor sich die Elfenbeinrose, wie sie auf Andreas’ Brust gelegen hatte. Sie hatte ihm mehr gegeben als nur sich selbst; sie hatte ihr Schicksal in seine Hände gelegt.
»Kind, hör mir zu. Du mußt nach Antiochien zurückreisen. Du mußt zu Andreas zurückkehren und dir die Kette wieder holen Öffne die Rose, Selene. Sieh dir den Ring an …«
Selene starrte ihre Mutter an. Nach Antiochien zurückkehren, zu Andreas.
»Selene, versprich es mir!« Mera umklammerte Selenes Handgelenk mit unerwarteter Stärke. »Tochter, Isis ist deine Göttin. Sie hat dich auserwählt. Du mußt herausfinden, wozu du auserwählt wurdest. Das ist deine
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