Seelengesaenge
es war, als näherte sie sich einem göttlichen Wesen.
Sie trat unter den wirren Bäumen hervor auf eine Lichtung mit einem ruhigen Weiher in der Mitte, der von roten und weißen Wasserlilien fast gänzlich überwuchert war. Schwarze Schwäne glitten majestätisch über die wenigen verbliebenen Stellen freien Wassers. Am sumpfigen Ufer stand ein Bungalow, der sich deutlich von den Gebäuden in der Stadt unterschied; er war aus Holz und Stein errichtet und ragte auf Stelzen über die Lilien hinaus. Ein steiles geschwungenes Dach aus blauem Schiefer ragte weit über die Wände und schuf eine umlaufende geschützte Veranda, und zugleich verlieh es dem gesamten Gebäude ein fernöstliches Aussehen.
Syrinx ging auf das Gebäude zu, mehr neugierig als erwartungsvoll. Es paßte überhaupt nicht zur Umgebung und war doch zugleich merkwürdig angemessen. Ein kupfernes Windspiel, völlig blau vom Alter und den Elementen, klingelte leise, als sie die wackligen Treppen der Veranda hinaufstieg, die über den See ragte.
Ein Mann erwartete sie, ein Orientale in einem Rollstuhl, gekleidet in eine navyblaue Seidenjacke mit einer karierten Decke über den Beinen. Sein Gesicht besaß die an Porzellan erinnernde Zartheit des hohen Alters, und das Haar war fast zur Gänze verschwunden. Nur ein silberner Kranz auf der Rückseite des Schädels war geblieben, dünne Strähnen, die lang genug waren, um bis über den Kragen zu reichen. Selbst der Rollstuhl schien antik; er bestand aus Holz und hatte große schmale Räder mit Chromspeichen und keinen Motor.
Es sah aus, als hätte der Mann sich seit Jahren nicht mehr aus seinem Rollstuhl erhoben; er paßte perfekt in die Konturen des Sitzes.
Auf dem Balkon saß eine Eule und betrachtete Syrinx aus großen Augen.
Der alte Mann hob eine von unzähligen Leberflecken übersäte Hand mit gelblicher Haut. Er winkte Syrinx. – Tritt näher.
Syrinx wurde sich mit schmerzhafter Klarheit bewußt, in welchem Zustand sich ihre Kleidung und ihr Make-up befanden, und trat ein paar zögernde Schritte vor. Sie warf einen Blick zur Seite, versuchte das Innere des Hauses durch die offenen Fenster zu erfassen. Schwarze Leere wartete hinter den rechteckigen Öffnungen. Eine Schwärze, in der sich Bewegung verbarg …
– Wie heiße ich? fragte der alte Mann mit scharfer Stimme.
Syrinx schluckte nervös. – Sie sind Wing-Tsit Chong, Sir. Sie haben das Affinitätsgen entdeckt und das Edenitentum erfunden.
– Das ist nachlässig gedacht, mein liebes Kind. Man erfindet eine Kultur nicht, man zieht sie auf.
– Ich … es tut mir leid. Ich kann nicht … Es fällt mir schwer zu denken. Schatten bewegten sich in der Dunkelheit, verfestigten sich zu Gestalten, die sie zu erkennen meinte. Die Eule rief leise. Schuldbewußt richtete Syrinx den Blick wieder auf Wing-Tsit Chong.
– Warum fällt dir das Denken schwer?
Sie deutete auf die Fenster. – Dort drinnen. Menschen. Ich erinnere mich an sie. Ich bin sicher, daß ich sie kenne. Was tue ich hier? Ich kann mich nicht erinnern!
– Niemand ist dort drinnen. Du darfst deiner Phantasie nicht gestatten, die Dunkelheit auszufüllen, Syrinx. Du bist nur aus einem einzigen Grund hier: mich zu sehen.
– Aber warum?
– Weil ich dir ein paar sehr bedeutsame Fragen stellen muß.
– Mir?
– Ja. Was ist die Vergangenheit, Syrinx?
– Die Vergangenheit ist die Gesamtheit aller Dinge, die die Gegenwart zu dem machen, was sie ist …
– Halt! Was ist die Vergangenheit?
Sie zuckte die Schultern, beschämt, daß sie hier vor dem Gründer ihrer Kultur stand und nicht die einfachsten Fragen beantworten konnte. – Vergangenheit ist ein Maßstab für entropischen Verfall …
– Halt. Wann bin ich gestorben, in welchem Jahr?
– Oh. 2090. Ein erleichtertes Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.
– Und in welchem Jahr wurdest du geboren?
– 2580.
– Wie alt bist du heute?
– Siebzehn.
– Was bin ich, wenn du siebzehn bist?
– Ein Teil der Multiplizität von Eden.
– Welche Bestandteile ergeben eine Multiplizität, mein Kind?
– Menschen.
– Nein. Nicht physisch zumindest, Syrinx. Was sind die tatsächlichen Bestandteile einer Multiplizität? Nenn mir den Prozeß, der beim Tod erfolgen muß?
– Transfer. Oh! Erinnerungen!
– Was also ist die Vergangenheit?
– Erinnerungen. Sie lächelte breit und straffte die Schultern, dann wiederholte sie: – Die Vergangenheit ist eine Erinnerung.
– Aha. Endlich kommen wir weiter. Wo ist der einzige
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