Seelengesaenge
machen.
– Sehr gut, Syrinx. Aber du hattest keinen Zusammenbruch. Deine Gedankenroutinen funktionieren ganz außerordentlich gut.
– Und warum bin ich dann hier?
– Ja, warum?
– Oh, Sie meinen einen Einfluß von außen?
– Genau. Eine höchst unangenehme Erfahrung.
– Ich wurde traumatisiert.
– Wie ich bereits sagte, deine Gedankenroutinen sind beeindruckend. Wir, das heißt deine Therapeuten, haben vorübergehend deinen Zugriff auf deine Erinnerungen als erwachsener Mensch blockiert, um eine Kontamination deiner Routinen durch das Trauma zu verhindern. Für den Augenblick kannst du ohne jede Störung denken, obwohl dieser Zustand deinem Intellekt nicht gestattet, mit maximaler Kapazität zu funktionieren.
Syrinx grinste. – Sie meinen, ich bin in Wirklichkeit noch schlauer?
– Ich ziehe es vor, von Auffassungsgabe zu sprechen. Doch für unseren Zweck reicht das, was wir bisher haben, völlig aus.
– Der Zweck ist meine Therapie, nicht wahr? Weil mein erwachsenes Bewußtsein traumatisiert ist, würde ich nicht zugehört haben. Ich bin also in Katatonie?
– Teilweise. Du hast dich in etwas zurückgezogen, das die Psychologen eine psychotische Schleife nennen. Diejenigen, die dich gequält haben, wollten dich zwingen, etwas Unvorstellbares zu tun. Du hast dich aus Liebe geweigert. Alle Edeniten sind stolz auf das, was du vollbracht hast, auf deinen Widerstand, und doch war es genau diese Tat, die zu deinem gegenwärtigen Zustand geführt hat.
Syrinx lächelte niedergeschlagen. – Mutter hat immer gesagt, ich sei ein stures Kind.
– Womit sie vollkommen recht hatte.
– Und was muß ich nun tun?
– Du mußt die Ursache für das erkennen, was dir angetan wurde. Das Trauma ist überwindbar, nicht augenblicklich, doch sobald du dir gestattest, dich an das Geschehene zu erinnern, ohne dich davon überwältigen zu lassen, wie das bisher der Fall gewesen ist, dann können deine restlichen Erinnerungen und Emotionen wieder nacheinander abgearbeitet werden.
– Das ist der Grund, aus dem Sie über die Vergangenheit gesprochen haben, nicht wahr? Damit ich lerne, mich meinen Erinnerungen ohne Furcht zu stellen, weil es eben nur Erinnerungen sind, weiter nichts. Im Grunde genommen harmlos.
– Exzellent! Und jetzt werde ich dir deine Erinnerungen zugänglich machen.
Sie wappnete sich gegen das Kommende, so dumm es auch war. Ihre Magenmuskeln verkrampften sich, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
– Sieh auf die Eule, befahl Wing-Tsit Chong. – Sag mir ihren Namen.
Die Eule blinzelte Syrinx an und streckte die Flügel. Syrinx starrte auf das gefleckte Muster aus ockerfarbenen und haselnußbraunen Federn. Sie zerflossen wie Flüssigkeiten, wurden mitternachtsblau und purpurn. »Oenone!« rief sie.
Pernik Island stürzte mit solcher Geschwindigkeit auf sie ein, daß sie sich angstvoll am Geländer festklammerte.
– Bitte nicht, Syrinx, flehte die Oenone. Die Flut von Elend und Sehnsucht in dieser einfachen Bitte ließen Tränen in Syrinx Tränen aufsteigen. – Verlaß mich nicht wieder!
– Niemals. Niemals wieder. Nie, nie, nie, meine geliebte Oenone! Ihr gesamter Körper bebte als Reaktion auf die Jahre der Erinnerung, die plötzlich in ihrem Bewußtsein waren. Und ganz am Ende, die letzte, bevor die Dunkelheit nach ihr gegriffen hatte, die lebendigste von allen: das Verlies und die Folterknechte.
– Syrinx?
– Ich bin da, versicherte sie dem Voidhawk mühsam. – Es ist gut. Es geht mir gut.
– Du hast mich vor ihnen gerettet, Syrinx.
– Wie hätte ich das nicht gekonnt?
– Ich liebe dich, Syrinx.
– Ich liebe dich, Oenone.
– Ich hatte recht, sagte Wing-Tsit Chong.
Als Syrinx den Kopf hob, sah sie den alten Mann sanft lächeln, und die hinzukommenden Falten ließen ihn ein weiteres Jahrzehnt altern. – Sir?
– Das zu tun, was ich all die Jahrhunderte vorher auch getan habe. Den Menschen die Liebe und die Bitterkeit zu zeigen, die in allen von uns existieren. Nur dann kommen wir ins Reine mit dem, was wir sind. Du bist der lebende Beweis, junge Syrinx. Dafür danke ich dir. Und jetzt öffne deine Augen.
– Aber sie sind offen!
Wing-Tsit seufzte theatralisch. – Wie pedantisch du bist! Dann schließ sie eben.
Syrinx öffnete die Augen und blickte zu einer himmelblauen Decke hinauf. Die dunklen Flecken am Rand ihres Gesichtsfelds wurden zu drei schrecklich besorgten Gesichtern, die sich über sie beugten.
»Hallo Mutter«, sagte sie. Es fiel ihr schwer zu
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