Seelengesaenge
Ort, an dem deine persönliche Vergangenheit Gestalt annehmen kann?
– In meinem Bewußtsein?
– Gut. Und was ist der Sinn des Lebens?
– Das Sammeln von Erfahrungen.
– Das trifft zu, obwohl ich aus rein persönlicher Sicht hinzufügen möchte, daß das Leben einen Fortschritt in Richtung Wahrheit und Reinheit darstellen sollte. Aber ich bin und bleibe im Herzen ein unbelehrbarer alter Buddhist, selbst nach all der Zeit. Deswegen konnte ich auch die Bitte deiner Therapeuten nicht abschlagen, mit dir zu sprechen. Offensichtlich bin ich eine Ikone, die du achtest. Einen Augenblick lang umspielte Humor seine Lippen. – Unter diesen Umständen konnte ich die Bitte gar nicht ablehnen, dir zu helfen. Es war ein Akt von dana.
– Dana?
– Der buddhistische Akt des Gebens. Ein Opfer, daß dem dayaka, dem Gebenden einen Blick auf eine höhere Ebene gestattet und ihm dadurch hilft, seinen Verstand zu transformieren.
– Ich verstehe.
– Es würde mich überraschen, wenn das zuträfe. Zumindest im vollen Umfang. Unsere Kultur scheint sich immer weiter von der Religion zu entfernen, was ich, wie ich gestehen muß, nicht vorausgesehen habe. Dein gegenwärtiges Problem ist allerdings unmittelbarer. Wir haben bisher festgestellt, daß du lebst, um Erfahrungen zu sammeln, und daß deine Vergangenheit nur eine Erinnerung ist.
– Ja.
– Kann sie dir schaden?
– Nein, antwortete Syrinx stolz. Es war die logische Antwort.
– Da irrst du dich. Wenn es so wäre, würdest du niemals aus deinen Fehlern lernen.
– Ich lerne daraus, ja. Aber sie kann mir trotzdem nicht schaden.
– Aber sie kann dich beeinflussen. Sehr stark sogar. Ich denke, wir streiten gerade darüber, wie viele Engel auf einem Stecknadelkopf tanzen, aber der Einfluß der Vergangenheit kann schaden.
– Vermutlich, ja.
– Laß es mich auf andere Weise ausdrücken. Deine Erinnerungen können dich beunruhigen.
– Ja.
– Gut. Welche Auswirkungen hat Beunruhigung auf dein Leben?
– Wenn man weise ist, hindert sie einen daran, Fehler zu wiederholen. Insbesondere, wenn es sich um schmerzhafte Fehler handelt.
– Das trifft zu. Also haben wir herausgefunden, daß die Vergangenheit dich durchaus kontrollieren kann, aber du umgekehrt nicht die Vergangenheit. Stimmt das?
– Ja.
– Was ist mit der Zukunft?
–Sir?
– Kann die Vergangenheit die Zukunft beeinflussen?
– Ich denke schon, ja, antwortete Syrinx vorsichtig.
– Und durch welches Medium?
– Menschen?
– Sehr gut. Das ist kamma. Oder, wie die westliche Zivilisation es ausdrückt, das Ernten dessen, was man gesät hat. Einfacher ausgedrückt, das Schicksal. Deine Handlungen in der Gegenwart beeinflussen die Zukunft, und deine Handlungen basieren auf der Interpretation von Erfahrungen, die du in der Vergangenheit gemacht hast.
– Ich verstehe.
– In dieser Hinsicht haben wir in deinem Fall ein etwas unglückliches Problem.
– Haben wir?
– Ja. Allerdings möchte ich, bevor wir fortfahren, daß du mir eine etwas persönliche Frage beantwortest. Du bist siebzehn Jahre alt, Syrinx. Glaubst du an Gott? Nicht ein so primitives Konstrukt wie das, was die Adamistenreligionen verkünden, sondern vielmehr eine höhere Macht, die verantwortlich ist für die Ordnung des Universums? Sei ehrlich, Syrinx. Ich werde nicht böse, ganz gleich, wie deine Antwort lautet. Vergiß nicht, ich bin wahrscheinlich die Persönlichkeit, die von allen Edeniten am meisten spirituell ausgerichtet ist.
– Ich glaube … Ich denke … Nein, ich fürchte, daß es keinen Gott geben könnte.
– Für den Augenblick gebe ich mich damit zufrieden. Diese Art von Zweifel ist unter uns Edeniten weit verbreitet.
– Ist sie?
– In der Tat. Und jetzt möchte ich dir ein paar Dinge über dich erzählen. Ich möchte, daß du jede meiner Aussagen mit der größtmöglichen Vernunft überdenkst.
– Ich verstehe.
– Wir befinden uns hier in einer Perzeptualrealität. Du wurdest zu mir gebracht, um mit einem Problem fertigzuwerden. Er lächelte freundlich und forderte sie mit einer Handbewegung auf fortzufahren.
– Wenn ich eine Behandlung erfahre, dann kann es nicht wegen physischer Verletzungen sein, dazu bedürfte es keiner Perzeptualrealität. Also handelt es sich um einen mentalen Zusammenbruch, und das hier ist meine Therapiestunde. Noch während sie es sagte, spürte sie, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, doch das Blut, das nun schneller durch ihre Adern floß, schien ihre Haut nur kälter zu
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