Seelengift
damals schon kennengelernt und in wenig sympathischer Erinnerung hatte, und einem Roland Hertzner, Leiter der Spurensicherung. Beide sagten übereinstimmend aus, dass Gruber »geschockt« über den Fund seiner Frau gewesen war. Offenbar hatte er sich zunächst geweigert, die Leiche abtransportieren zu lassen, und war nur unter Mühen dazu zu bewegen gewesen, den Tatort zu verlassen. Doch hier gab es einen
Unterschied. Während Roland Hertzner, der Irmgard Gruber auch persönlich gekannt und sie als Erster identifiziert hatte, Grubers Reaktion »verständlich« nannte und auf seine Betroffenheit und seinen Schockzustand zurückführte, bezeichnete Sabine Sommer dieses Verhalten als »merkwürdig« und »unangemessen«.
Clara runzelte die Stirn. Was sollte das heißen? Sie nahm sich die Protokolle genauer vor. Obwohl die beiden Aussagen hinsichtlich der Tatsachen übereinstimmten, unterschied sich Kommissarin Sommers Wertung der Ereignisse ganz erheblich von der Hertzners. Grubers Versuch, die nackte Leiche seiner Frau mit seinem Mantel vor den Blicken der anderen zu schützen, war Sommer »aufgesetzt« und »etwas übertrieben« vorgekommen. Unverständnis zeigte sie auch für seine Weigerung, die Leiche zu verlassen: »Er war außer sich, hat mir sogar gedroht für den Fall, dass ich näher kommen sollte.«
Clara schüttelte den Kopf. In Kommissarin Sommers Worten klang es so, als hätte sie es mit einem tollwütigen Hund zu tun gehabt und nicht mit einem Mann, dessen Frau gerade getötet worden war. Sommer gab außerdem zu Protokoll, Gruber habe mit seinem Verhalten ihrer Ansicht nach verhindert, dass sofort nach Auffinden der Leiche ordnungsgemäß nach Spuren gesucht werden konnte, und so die Angelegenheit verzögert. »Dabei müsste es doch in seinem Interesse liegen, den Täter so schnell wie möglich zu finden.« Immerhin sei er ja Polizeibeamter, und »bei allem Verständnis« dürfe ein »Mindestmaß an Professionalität« auch in einem solchen Fall vorausgesetzt werden. Zweifellos schien Sommer überzeugt davon, dass sie im Gegensatz zu Gruber diese Professionalität mit Leichtigkeit hätte aufbringen können.
Clara, die die Kommissarin als eine übertrieben hart auftretende,
ehrgeizige Blondine mit burschikosem Kurzhaarschnitt in Erinnerung hatte, verzog bei dieser selbstgefälligen Aussage verächtlich den Mund. »Darauf möchte ich wetten, Fräulein Sommer«, murmelte sie, »dass du über Leichen gehst, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn es deinem Job dienlich ist.«
Doch als sie den letzten Satz der Aussage las, verschwand das spöttische Lächeln aus ihrem Gesicht, und sie starrte minutenlang ins Leere. Hätte sie noch einen Beweis für Kommissarin Sommers Kaltblütigkeit gebraucht, mit dem sie bereit war, Gruber ans Messer zu liefern, hier war er schwarz auf weiß:
»Ich weiß nicht, ob das wichtig ist«, stand dort wörtlich zitiert, »aber ich habe gehört, wie Herr Gruber etwas zu seiner Frau gesagt hat, als er sich über sie beugte.« Clara schnaubte grimmig und las ein zweites Mal den Text: »Er hat sich bei ihr dafür entschuldigt, dass er keine Geduld gehabt hat. Es klang so, als ob er sich schuldig fühlte. Das ist mir schon sehr merkwürdig vorgekommen.«
Claras Faust landete mit voller Wucht auf der Seite.
Elise hob erschrocken den Kopf, ließ ihn dann aber schnell wieder auf die dicken Vorderpfoten sinken: Immer diese Gefühlsausbrüche. Konnte diese Frau nicht einfach mal ein Mittagsschläfchen halten? Die Dogge schob ihren Körper in eine neue Ruheposition und schloss erneut die Augen.
Von dem Gedanken an ein Mittagsschläfchen war Clara jedoch so meilenweit entfernt wie ein Hunnenkrieger davon, Babysöckchen zu häkeln. Sie sprang auf und begann, sehr zum Leidwesen von Elise, ziellos im Zimmer umherzulaufen. »So ein Miststück«, schimpfte sie vor sich hin. »Ein intrigantes, karrieregeiles Biest.«
War Grubers Situation ohnehin nicht gerade rosig, mit
diesen vagen Andeutungen hatte Sabine Sommer erheblich zu deren Verschlechterung beigetragen. Nichts davon war in irgendeiner Weise ein Indiz, keine harten Fakten, keine Beweise, nur Wertungen und Bosheit. Man konnte alles so drehen, wie man es haben wollte. Das war eines der ersten Dinge, die man in einem Gerichtsprozess lernt. Man musste immer mit allem rechnen: Ein vermeintlich todsicherer Zeuge konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, oder der Mandant hatte vorab vergessen, seinem Anwalt mitzuteilen, dass er doch ein paar
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