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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Schmerzgrenze in dieser Beziehung auch nicht besonders niedrig war, störten sie herumliegende Kleider und die zahllosen Bücherstapel auf dem Boden nicht besonders. Ärgerlich war jedoch, dass Mick keinen Fernseher besaß. Gerade heute Abend hätte sie sich irgendeine nichtssagende Talkshow oder einen seichten Schmachtfilm zur Ablenkung gewünscht. Auch war kein Bier im Kühlschrank, kein Whiskey oder sonst ein alkoholisches
Getränk zu finden. Daran hatte Clara nicht gedacht. Mick hatte eigentlich nie Alkohol im Haus. War auch irgendwie logisch, wenn man den ganzen Tag in einer Kneipe stand.
    Clara kochte sich einen Tee und setzte sich mit der heißen Tasse in den Händen in Micks Sessel am Fenster, um auf ihn zu warten. Um eins schloss das Pub. Spätestens um zwei würde er wohl zu Hause sein. Vorher würde sie kaum schlafen können. Sie war viel zu aufgewühlt, musste unbedingt mit jemandem reden. Ihr Blick fiel auf ihre Tasche, in der die beiden Todesanzeigen in einer Plastikhülle verstaut waren. Sie musste sie Mick zeigen. Irgendwie hegte sie die Hoffnung, es werde danach etwas weniger bedrohlich, etwas weniger schlimm sein. Aber vielleicht war es gar nicht so? Vielleicht würde es noch viel realer, wenn noch jemand davon wusste? Was, wenn Mick sich darüber mehr aufregte, als sie jetzt vermutete? Wenn er sie gar nicht trösten konnte, weil es ihn genauso beunruhigte wie sie selbst? Wie würde sie im umgekehrten Fall reagieren? Sie fröstelte und nahm einen Schluck von dem Tee. Sie würde sich schrecklich aufregen. Sie wäre kaum in der Lage, ihn zu beruhigen, im Gegenteil, wahrscheinlich würde sie ihn eher noch verrückt machen.
    Clara vergrub sich noch ein bisschen tiefer in den Sessel und griff nach einem der Bücher, die dort auf einem Stapel neben der Lampe lagen. High Fidelity von Nick Hornby, das kannte Clara schon. Darunter lag ein abgegriffenes Exemplar von James Joyces Finnegan’s Wake und noch eine Etage tiefer ein ebenso abgegriffenes, dickes Taschenbuch, das Clara jetzt zur Hand nahm: Infinite Jest von David Forster Wallace, die amerikanische Originalausgabe dieses Wälzers, dessen deutsche Ausgabe unter dem Titel Unendlicher Spaß im letzten Jahr in allen Feuilletons besprochen worden war. Clara
hatte ihn trotzdem oder vielleicht gerade deswegen nicht gelesen. Sie wusste, dass Mick ausgesprochen viel las, vorwiegend nachts, wenn er vom Pub heimkam und abschalten musste, doch über dieses Buch hatte sie ihn noch nie etwas erzählen hören. Sie nahm sich vor, ihn zu fragen, und blätterte versuchsweise darin herum. An einem Satz blieb sie hängen: »Witze waren oft die Flaschen, in denen klinisch depressive Menschen ihre gellendsten Hilferufe nach jemandem aussendeten, der sich um sie kümmern sollte.«
    »Du meine Güte!« Clara schluckte. Vielleicht nicht die beste Lektüre für eine Nacht wie diese. Sie klappte das Buch zu und trank ihren Tee aus. Vielleicht sollte sie ins Bett gehen. Sie würde Mick ohnehin hören, wenn er kam.
     
    Er kam nicht. Clara döste ein, schreckte wieder hoch und lag dann mit offenen Augen da und wartete. In der Ferne schlug eine Uhr, und sie hörte jede Stunde mit übergroßer Deutlichkeit: Mitternacht, eins, zwei, drei, vier … Als sich endlich der Schlüssel im Schloss drehte, war es kurz nach fünf, und Claras Augenlider brannten vom fehlenden Schlaf und dem Starren in die Dunkelheit.
    Mick schlich, so leise er konnte, und das war nicht besonders leise. Offenbar war er nicht mehr ganz nüchtern, was bei jemand, der erst um fünf Uhr morgens nach Hause kam, auch nicht zu erwarten war.
    Clara hörte, wie er sich auszog und ins Bad ging, sie sah den schwachen Lichtschein unter der Tür, hörte die Geräusche von laufendem Wasser und knipste das Licht an. Doch nach wenigen Sekunden schaltete sie es wieder aus. Sie wollte nicht mit vorwurfsvollem Blick im Bett sitzen wie eine eifersüchtige Ehefrau. Zu reden war mit Mick um diese Zeit ohnehin nicht mehr. Als er aus dem Bad kam, tat sie deshalb
so, als schliefe sie tief und fest. Er kletterte zu ihr ins Bett und küsste sie aufs Haar. Clara kniff die Augen zusammen und befahl sich selbst, nicht ärgerlich zu sein. Morgen, morgen würde es noch genug Gelegenheit geben, mit ihm zu reden. Sie entspannte sich ein wenig, schmiegte sich an ihn und spürte seine Wärme. Mick war immer warm, im Gegensatz zu Clara hatte er offenbar nie kalte Hände oder Füße.
    Sie roch ganz schwach den Tabak seiner selbstgedrehten

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