Seelengift
ihren Stuhl und schob ihn zurück an ihren Schreibtisch.
»Clara! Du kannst doch jetzt nicht einfach so weggehen! Bitte, sag doch etwas!«
Clara sah ihn an: »Was soll ich noch sagen? Ist doch schon alles geklärt.«
»Sag mir doch wenigstens, was du davon hältst.«
Clara lachte bitter. »Als ob das wichtig wäre. Du willst doch jetzt nur kein schlechtes Gewissen haben. Ich kann dir höchstens sagen, was ich von dir halte: Du bist ein erbärmlicher Feigling, und ich sollte froh sein, dich endlich los zu sein.« Bei diesen Worten schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie sprang hastig auf und lief nach draußen auf die Straße.
Als Gruber um Punkt halb eins vor der Tür stand, um sie zum vereinbarten Mittagessen abzuholen, war Clara so erleichtert, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.
Nach der folgenschweren Unterredung mit Willi war sie erst einmal eine Runde um den Block gelaufen, um sich abzukühlen. Angesichts der Tatsache, dass sie keinen Mantel mitgenommen hatte, funktionierte das mit der Abkühlung zumindest äußerlich recht gut. Der Himmel war bedeckt, und es war nicht mehr ganz so kalt wie an den Tagen zuvor, doch
es genügte, um sie innerhalb weniger Minuten in ihrem dünnen Pullover zittern zu lassen. Dazu kam ein kalter, unangenehmer Wind, der Schnee verhieß. Als sie nach zehn Minuten zurück in die Kanzlei kam, brachte sie diese Kälte mit in den Raum, umgab sich mit ihr wie mit einem Panzer und warf Linda und Willi bei dem kleinsten Versuch, das Wort an sie zu richten, derart eisige Blicke zu, dass sie ganz von selbst verstummten. So arbeiteten alle drei schweigend den ganzen Vormittag, und als Kommissar Gruber kam, empfing ihn Clara bereits angezogen und mit Elise an ihrer Seite an der Tür.
Sie gingen zusammen zu Rita. Clara zögerte ein wenig, überlegte, ob sie Gruber zuerst von der Todesanzeige erzählen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen und begann mit der Schilderung ihres gestrigen Nachmittags. Sie berichtete von ihrem Besuch bei Hartmanns Berufskleidung und erzählte, wie sie auf die Idee gekommen war, Gerlinde Ostmanns Nachmittag zu rekonstruieren, in der Hoffnung, so auf eine Spur zu stoßen.
Gruber hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Als sie bei der Geschichte von der Kneipe ankam, hob er den Kopf. »Und Sie sind sicher, dass es Gerlinde Ostmann war, die der Wirt gesehen hat?«, fragte er aufgeregt nach. »Es ist immerhin eine Weile her.«
Clara nickte. »Ganz sicher«, sagte sie mit Nachdruck. »Der Wirt hat sogar den Blumenstrauß beschrieben. Er konnte sich so gut daran erinnern, weil es ein besonderer Abend war.« Und dann erzählte sie Gruber von dem Akkordeonspieler namens Papa Joke.
Grubers Augen wurden schmal, und Clara konnte sehen, wie seine Erregung stieg, während sie wiedergab, was der Wirt ihr erzählt hatte. Als sie an dem Punkt ankam, an dem
Gerlinde Ostmann mit dem Mann das Lokal verlassen hatte, machte er eine heftige Bewegung, und seine rechte Hand ballte sich zur Faust. »Verdammt!«, brummte er und dann, zu Clara gewandt: »Das haben Sie wirklich gut gemacht.«
»Ich weiß!«, sagte Clara keck, und sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Wangen mit einer zarten Röte überzogen. Lob konnte sie heute gut gebrauchen.
Gruber sinnierte eine Weile vor sich hin und malte mit seinem Messer Muster auf die weiße Papierserviette. Dann sagte er nachdenklich: »Gehen wir also einmal davon aus, dass es dieser Mann war, der Gerlinde Ostmann damals hat sterben lassen, wo ist seine Verbindung zu Irmgard?«
Clara schwieg. Über diese Frage hatte sie sich auch schon den Kopf zerbrochen. Anders als im Fall Gerlinde Ostmann war Irmgards Tod kein Unfall, sondern ein klarer, kaltblütig ausgeführter Mord. Wo also lag die Verbindung? Es war einfach nicht genug, dass die Frauen am gleichen Ort gefunden worden waren.
Sie schüttelte unglücklich den Kopf, und Gruber, der sie unablässig beobachtet hatte, sagte leise: »Es gibt keine.«
Clara zuckte mit den Schultern. »Nein. Zumindest keine, die wir sehen können. Also keine für die Polizei und die Richterin. Wenn wir jetzt damit ankommen und sagen, wir haben womöglich den Mann gefunden, mit dem Gerlinde Ostmann gegangen ist, bevor sie starb, was wird Kommissarin Sommer dazu sagen? Ein Fall von unterlassener Hilfeleistung, danke für die Information, aber was hat das mit dem Fall Gruber zu tun?«
Gruber nickte bitter. »Sie wird den Zusammenhang nicht
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