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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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glauben konnte.
    Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn ordentlich auf einen Bügel, dann die Schuhe, die sie darunterstellte, und versuchte, das Blatt Papier nicht anzusehen, das neben ihr auf dem Boden lag. Doch in den Augenwinkeln blitzte ständig etwas Weißes, sie schaffte es nicht, sich vollkommen wegzudrehen. Schließlich bückte sie sich schwerfällig wie eine alte Frau, hob es hoch und nahm es mit in die Küche. Warum tat jemand so etwas? Sie zündete sich eine Zigarette an, strich mit zittrigen Fingern über das Blatt, rauchte und wartete darauf, dass sich der Schock legte. Doch auch nachdem das Zittern in den Händen nachgelassen hatte, verweigerte ihr Verstand noch immer den Gehorsam. Clara saß wie erstarrt, versuchte, sich zu sammeln, versuchte, klar zu denken. Dann fiel ihr Blick erneut auf die Zeilen, und dieses Mal sprangen ihr die einleitenden Worte ins Auge, die sie anfangs
angesichts des Schocks, ihren Namen dort zu sehen, gar nicht wahrgenommen hatte: Niemand trauert … Ihr Magen zog sich angesichts der Boshaftigkeit, die aus diesen Worten sprach, zusammen. Niemand trauert… Sie begann zu weinen.
    Irgendwann stand sie auf und ging ins Bad. Wusch sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser, rubbelte sich trocken, bis ihr Gesicht krebsrot war. »Wer tut so etwas?«, fragte sie ihr Spiegelbild. »Warum?« Sie verstand es nicht. Es musste doch eine Bedeutung haben? Es musste ein Sinn dahinterstecken, eine Botschaft. Sie ging zurück in die Küche, starrte erneut auf den Zettel, las den Bibelspruch und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht«, murmelte sie. »Was soll das heißen? Wer hat keine Ruhe? Ich? Ich soll keine Ruhe mehr haben? Vor wem? Weshalb?«
    Das schrille Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sie zuckte zusammen und starrte verschreckt auf den Apparat. Was, wenn der Briefschreiber anrief? Erst nach dem dritten Klingeln konnte sie sich entschließen, aufzustehen und abzuheben.
    Es war Walter Gruber, und Clara bekam vor Erleichterung ganz weiche Knie. »Oh, hallo!« Ihre Stimme klang fast euphorisch, und Gruber war hörbar irritiert darüber.
    »Frau Niklas? Ich habe den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen. Hat ein bisschen Überredungskunst gebraucht, bis Ihre Sekretärin Ihre Privatnummer herausgerückt hat.«
    Richtig. Claras Erleichterung wurde noch ein wenig größer: Sie stand ja gar nicht im Telefonbuch. Wer auch immer diesen Brief geschrieben hatte, konnte ihre Nummer gar nicht wissen, er konnte sie also gar nicht anrufen. Im gleichen Moment fiel ihr jedoch ein, dass der Absender den Brief unter der Tür durchgeschoben hatte. Er wusste also, wo sie wohnte, und das war noch viel schlimmer: Er war da gewesen.
Hier vor ihrer Tür. Er hatte sich die Mühe gemacht, den Brief persönlich vorbeizubringen. Warum? Warum hatte er ihn nicht mit der Post geschickt? Hatte er etwa auf sie gewartet? Ihre Hand, die den Hörer hielt, begann wieder leicht zu zittern. Sie hatte Mühe, dem zu folgen, was Gruber ihr erzählte.
    »Äh, was meinten Sie gerade?« Sie hustete nervös. »Ich habe Sie nicht verstanden …«
    »Geht es Ihnen gut?«, fragte Gruber verwirrt. »Sie klingen irgendwie komisch.«
    Clara versuchte ein Lachen, das kläglich ausfiel. »Alles in Ordnung, ich war nur abgelenkt.«
    »Hm, ja, also ich wollte Ihnen nur sagen, dass am Freitag um 9 Uhr die Beerdigung stattfindet. Auf dem Nordfriedhof. Vielleicht haben Sie ja die Todesanzeige in der Zeitung gesehen …«
    »Todesanzeige?« Claras Stimme klang schrill.
    »Äh, ja. Sie stand heute in der Zeitung, aber wir haben den Termin nicht reingeschrieben. Mein Sohn und ich, wir wollten nicht, dass ein Haufen Neugieriger kommt, da haben wir es ganz kurz gemacht …«
    »In welcher Zeitung?«, unterbrach ihn Clara und versuchte, ruhiger zu atmen, damit die Stimme ihr nicht erneut entgleiste.
    »In der Süddeutschen. Fehlt Ihnen wirklich nichts?« Gruber klang jetzt ein wenig besorgt. »Sind Sie vielleicht krank? In der Kanzlei wussten sie gar nicht, ob Sie heute noch einmal reinkommen …«
    »Nein, nein, alles in Ordnung«, versuchte Clara, ihn zu beruhigen. Sie hätte fast laut losgelacht. Nichts war in Ordnung. Rein gar nichts. Sie lenkte vom Thema ab: »Können wir uns morgen treffen? Ich habe etwas herausgefunden.«

    »Tatsächlich? Und das sagen Sie erst jetzt? Schießen Sie los!«
    »Nein. Nicht jetzt. Ich habe jetzt keine Zeit. Morgen. Sagen wir um halb eins in der Kanzlei? Wir könnten in Ritas Café

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