SEELENGOLD - Die Chroniken der Akkadier (Gesamtausgabe)
schwanzwedelnd alles in Kauf nahm.
Als Roven anhielt, fand er sich in einer Straße mit typisch englischen Reihenhäusern wieder. Idyllische Gegend. Er schaute nach rechts, die Treppe hinauf und betrachtete die Eingangstür.
Irgendetwas war hier.
Der Akkadier nahm einen Duft wahr, einen Geruch, der ihm bekannt vorkam. Und er begriff schneller, als er sollte. Sie war es. Zum zweiten Mal in einer Nacht. So viel zum Schicksal. Er hätte es bevorzugt, sie nicht zu finden. Weise Entscheidungen zu treffen, fiel ihm heute nicht besonders leicht. Roven sollte hier verschwinden. Er drehte sich weg und wurde sogleich von ihrem Duft umarmt. Als würde er dem Gesang einer Sirene unterliegen.
Nähre dich! Naham drehte ihn zurück und schickte Roven die Treppe hinauf. Unbewusst nahm er eine Stufe nach der anderen. Sie würde es doch eh vergessen, würde ihn vergessen, wie sie es nach ihrer ersten Begegnung auch getan hatte. Sie war nur ein Mensch, ein gewöhnlicher Sterblicher. Genau.
Er sah auf das Klingelschild. ‚Selene Johnson’.
Roven machte einen Satz und landete auf ihrem Balkon.
Ihre Hände waren noch immer schmutzig. Der Schweiß lief an Schläfen und Rücken hinunter. Langsam beruhigte sich die Atmung. Aber Selene konnte sich noch immer nicht erinnern.
Was ist nur mit mir los? Sicher. Die eigene Mutter zu verlieren, konnte einen schon mal aus der Bahn werfen. Charlie war so lange krank gewesen, dass Selene völlig verdrängt hatte, womit dieses Leiden enden würde.
Jeder hatte es gewusst. Und jeder kam damit zurecht. Nur Selene nicht. Anstatt zu trauern, drehte sie durch, verlor die Kontrolle, verlor sich selbst und ihren Verstand. Das war unangebracht. Selene schämte sich, für ihr Verhalten und ihre Verstörtheit, und konnte diesen inneren Wahnsinn dennoch nicht unterdrücken. Sie verspürte den Drang, sich dafür zu entschuldigen. Wenn ihre Mutter sie nur hören könnte.
Es tut mir leid! und Du … fehlst mir. Das würde sie gern sagen und musste mit der wachsenden Unruhe in ihrer Brust kämpfen. Selene wünschte sich in diesem Moment so sehr, ihre Mutter könnte sie noch einmal in die Arme nehmen. Früher hatte sie das nicht zu schätzen gewusst und jetzt fehlte es ihr. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum ihre Mutter hatte sterben müssen und warum sie das verstehen sollte. Das ist nicht fair! Nicht fair …
Selene wollte nicht weinen. Aber es fiel ihr immer schwerer. Sie musste endlich zur Ruhe kommen. Im Schlaf würde sie zwar träumen, aber wenigstens würde die Zeit schneller vergehen. Gedanken und Gefühle ließen sich damit hoffentlich verdrängen.
Sie stand auf und warf einen kurzen Blick durch ihr Küchenfenster. Die Straße war dunkel. Neuerdings mochte Selene die Dunkelheit. In den anderen Häusern brannte warmes Licht, nicht in ihrem. Und das empfand sie als äußerst beruhigend. Es machte einen fast unsichtbar. Keiner konnte sie sehen. Selene stand in der Dunkelheit und niemand wusste es. Niemanden interessierte es.
Erschöpft stieg sie die Treppe hinauf und ging ins Bad. Mondlicht schien durchs Fenster und tauchte den Raum in kühlen Glanz. Sie streifte die verschwitzten Sachen ab und stellte sich in die kalte Kabine. Das Wasser versorgte sie mit Wärme, wenn auch nur äußerlich. Sie konnte sich reinwaschen, konnte ihre Sorgen wegspülen – für einen kurzen Moment. Selene hob den Kopf, schloss die Augen und hielt ihr Gesicht unter den heißen Strahl. Wasser rauschte über ihre Ohren hinweg und schirmte sie nach außen ab. Sie blieb eine ganze Weile so stehen. Nichts war zu hören. Keine Gedanken durchströmten ihr Bewusstsein – nur die Komposition des fließenden Wassers und ihres hartnäckigen Herzschlags.
Auf einmal blieb ihr der Atem weg. Sie musste an das Ende des Traumes denken. Selene schlug die Augen auf und hob das Gesicht aus dem Wasser, holte tief Luft und versuchte, ihre Aufregung zu überwinden. Es half nichts. Sie legte ihre Stirn gegen die kalten Fliesen. Kopfschüttelnd akzeptierte Selene die unwillkommene Hysterie.
Sie musste schlafen, irgendwie.
Die Wohnung lag im Dunkeln. Doch Roven wusste, dass sie da war. Er konnte sie riechen. Seife verfälschte das Aroma. Scheinbar duschte sie. Er wurde unruhig, musste sich davon abhalten, keinen Blick auf diese Szene zu werfen. Am liebsten wäre er zu ihr gegangen und … egal.
Früher hatte er sich genommen, wonach ihm verlangte – Blut, Frauen oder auch einen Kampf gegen zwei Dutzend Taryk, um sich abzureagieren. Aber
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