SEELENGOLD - Die Chroniken der Akkadier (Gesamtausgabe)
anfange.“ Sie spuckte ihm auf die Brust und verbrannte ein weiteres Stück Fleisch. Vom goldenen Leuchten seines Körpers war kaum noch etwas zu sehen. Er war übersät mit schwarzen Brandblasen und blutenden Löchern. Grauenvoll.
Der Taryk fragte sich, warum er die Folter seines Feindes nicht als Genugtuung empfand. Warum ihn diese Bilder so anwiderten. Bilder, die ihm ins Gehirn gezwungen wurden, einfach nur, weil er ein Taryk war – ein Leben, das ihm mehr und mehr als grausame Hölle erschien. Er öffnete die Augen und versuchte, die Gedanken loszuwerden, aber es gelang ihm nicht. Er war gefangen und an Assora gebunden.
In einem Krankenzimmer auf der Intensivstation des St. Pancras Hospital betrachtete Julia ihre Freundin mit fürchterlichen Schuldgefühlen.
Sie lag in einem Koma ersten Grades – seit letzter Nacht – und die Ärzte hatten die Ursache bislang nicht herausgefunden, waren ratlos. Selenes Organe funktionierten einwandfrei. Eventuell könnte es ein epileptischer Anfall gewesen sein, oder Schlimmeres. Der MRT hatte keine Erkenntnisse hinsichtlich eines Tumors gebracht und auf den Computertomographen mussten sie noch warten.
Ein fürchterliches Gefühl beschlich Julias Herz.
Sie hatte Selene das angetan. Es war ihre Schuld. Sie wollte eigentlich etwas vollkommen anderes erreichen und brachte ihrer Freundin beinahe den Tod. So eine Verbindung konnte doch gar nicht funktionieren. Sie hätte das wissen müssen. Und jetzt gab es kein Zurück mehr – die Verschmelzung hatte begonnen.
Was hab ich getan?
Selenes Augen blieben verschlossen. Zumindest konnte sie nichts sehen. Auch zu fühlen oder zu riechen gelang ihr nicht. Der Körper musste gelähmt sein, taub. Und obwohl sie keinerlei Wahrnehmung besaß, wusste Selene etwas Entscheidendes, etwas durchaus Beängstigendes, wäre sie im Stande gewesen, Angst zu fühlen. Auf ihrem Rücken lagen faulige Hände, die sie nach unten drückten. Verwesung kroch in sie hinein, bewegte sich unter der Haut und fraß ihren Leib Stück für Stück auf, ohne, dass sie sich hätte wehren können.
Das ist das Ende.
Von hier kam sie nicht mehr weg.
Sie würde sterben. Gefangen in ihrer eigenen Trauer hatte Selenes Seele beschlossen, sich aufzugeben – ihr menschliches Dasein aufzugeben. Und Selene war eigens schuld daran, hatte diesen Schmerz nicht bewältigen können, war nicht stark genug gewesen. Jetzt blieb sie gefangen. Niemand würde ihr helfen können. Wer würde es schon wollen?
Ab und zu vernahm Selene Stimmen aus der Außenwelt. Doch Worte konnte sie nicht verstehen, der Inhalt blieb draußen hängen, fand keinen Weg hinunter in ihren Abgrund. Selbst dieser Trost blieb ihr verwehrt. Auch in den letzten Stunden, in denen ihr Verstand noch vorhanden war, sollte sie allein sein.
Plötzlich spürte Selene ein Kribbeln auf ihrem Rücken.
Oh Gott, nein! Bitte nicht!
Ihre Sinne kehrten zurück. Sie konnte es fühlen, konnte schlagartig alles wahrnehmen. Die Maden wühlten unter ihrer Haut und rissen am Fleisch. Unbarmherzig wurde Selene nach unten gedrückt, auf den eiskalten Steinboden, an dem ihr schweißnasser Körper mittlerweile festgefroren war. Und dieser fürchterliche Schmerz, der ihren Magen jedes Mal zusammenzog, kehrte zurück. Alles war da – jede schreckliche Empfindung. Selene weinte, als ob es ihr helfen könnte. Doch das tat es nicht. Stattdessen brannten die Tränen wie Säure und verätzten ihre Haut.
Sie hatte keine Kraft mehr.
Ihr Körper erhielt die Lektion, die ihr Verstand ausgelöst hatte. Was früher nur in ihrem Inneren schmerzte, wirkte jetzt in vollkommener Brutalität auf alle Nervenenden ein.
Zu viel.
Ich kann nicht mehr …
Die Maden unterbrachen ihr Festmahl, als eine beinahe zurückhaltende Empfindung über Selenes Rücken glitt.
Ruhe kehrte ein, als würde die Zeit stillstehen.
Selene atmete auf. Und die Berührung verschwand nicht etwa, sie blieb und wiederholte sich. Eine warme Hand streichelte ihr Rückgrat entlang. Immer wieder, von oben nach unten, mit sanftem Druck fuhr sie über Selenes Haut und vertrieb den Kummer. Die Kälte verschwand. Stattdessen strahlte Wärme auf sie nieder, wie Sonnenlicht. Und der Wahnsinn, der Selenes Kopf noch vor kurzem beherrscht hatte, verstummte. Die vielen Stimmen der Außenwelt vereinten sich zu einem tiefen Bass, der die Mauern ihrer Hölle durchbrach und auf sie einredete. Sie sollte aufwachen und zurückkehren.
Zurückkehren?
Wie gern Selene das wollte. Wenn sie
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