SEELENGOLD - Die Chroniken der Akkadier (Gesamtausgabe)
des Treppengeländers und schritt die Stufen hinauf.
Erregung knisterte in ihm. Dass er in diesem Augenblick an Sex dachte, zeigte, wie kaputt er mittlerweile war. Selene rekelte sich an seinen Hals geschmiegt und stöhnte leise. Gleich würde sie aufwachen und der intime Moment wäre vorbei.
Als er in ihr Schlafzimmer trat, kontrollierte er als erstes die Ecke, in der der Taryk verendet war. Die Asche war fort, hatte sich letztendlich in schwarzen Rauch aufgelöst.
Du bist das wahre Monster!
Wenn er die Gelegenheit hätte, würde er –
„Roven?“ Der Akkadier verdrängte die Mordgier und schaute auf Selene hinab. „Nicht, dass es mich stört, aber … du darfst mich gern runterlassen“, schmunzelte sie.
Er schluckte seinen Unmut hinunter und setzte sie vorsichtig ab.
„Ich … suche schnell ein paar Sachen zusammen.“ Roven nickte ihr zu und lauschte doch ständig in die Ferne, suchte die Umgebung nach Gefahren ab und wartete unter höchster Anspannung auf einen möglichen Angriff.
Selene wollte es sich nicht anmerken lassen, doch er konnte ihre aufsteigende Angst spüren. Wie ein Strick, der ihre Kehle umspannte und sich immer enger zusammenzog. Die Erinnerung an das Geschehene holte sie ein. Ihr Blut raste. Hektisch packte sie ihre Sachen zusammen, durchwühlte die Schränke und stopfte die Reisetasche voll, ohne zu merken, in welche Hast sie geraten war.
Als er kurz davor war, sich einzumischen, blieb sie plötzlich stehen und starrte ins Leere, als ob sie einen Ort sah, der sich außerhalb ihrer Wahrnehmung befand – der sie zu sich lockte. Ihre Atmung ging ruhelos. Die Schultern hoben sich, als wäre sie gerannt und in den schokoladenbraunen Augen glänzte Feuchtigkeit.
Roven ging zu ihr, hob eine Hand und streichelte über Selenes Wange, wischte die Träne fort, die sich einen Weg in die Freiheit gesucht hatte.
Sie schaute zu ihm auf und ihr leidvoller Blick zerriss ihm das Herz. Als sie anfing zu zittern, schloss er sie in seine Arme und hielt sie fest, ganz fest, solange sie weinte.
„Du bist in Sicherheit“, flüsterte er immer wieder. „Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert, Selene.“
Und aus demselben Grund, den Roven schon Tage zuvor gespürt hatte, machte er sich Vorwürfe, fühlte sich verantwortlich – für die Trauer, die Angst und alles, was Selenes Augen mit diesem unbeschreiblichen Elend erfüllte.
Kapitel 12
Enûma – ein Ort jenseits der Vorstellungskraft – lag außerhalb der Wahrnehmung aller Sterblichen und diente als Zuflucht für Götter, Halbgötter und sonstige Wesen, die auf Erden keinen Platz fanden. Verborgen in einer anderen Ebene der Realität existierte Enûma kongruent zum Leben der Menschen und war doch so unwahr, wie es nur sein konnte.
Schwebende Berge voll unberührter Natur ragten aus den Wolken empor, unzählige Wasserfälle hüllten die Welt in glitzernden Nebel. Einzig verbunden durch irisierend goldene Brücken beherbergten die Täler Palais und Tempel, die, strotzend vor Schönheit, ein Nest architektonischer Vielfalt bildeten. Trompenkuppeln aus Persien, ionische Säulen, byzanthische Mosaike und selbst die Rundbögen der Mauren waren zu finden. All diese Baustile vereinten sich in monumentalen Prachtbauten und ließen Enûma wie einen Traum aus tausend und einer Nacht erscheinen.
Und inmitten des Götterreiches ragte der Tempel der Liebesgöttin hervor. Blutrote Vorhänge flammten durch jeden Fensterbogen nach außen und die Wände schienen einen goldenen Glanz zu besitzen. Farbenprächtige Malereien und Mosaike schmückten das gesamte Bauwerk.
Hinter der Hauptpforte tat sich eine Säulenhalle auf, die im Mittelpunkt von Ishtars Heim mündete – ein himmelsgleicher Salon mit rund gewölbten Decken, glänzendem Marmorgrund und in den Fußboden eingelassenen Mosaikbildern. Säulen und archaische Steinreliefs rahmten den altargleichen Raum ein.
Ein dunkelrotes Gewand kleidete die Halbgöttin und wurde durch eine goldene Palla über ihren Schultern komplettiert. Die hüftlangen blondroten Locken hingen regungslos hinab. In ihrem Herzen wütete eine Last, die ihre göttliche Ruhe störte und die Unvernunft in ihr zum Vorschein brachte.
Jolina stand im Zentrum der Halle und betrachtete das vor ihr dampfende Sichtfeld. Der weiß glitzernde Nebel zeigte den einen Akkadier, der ihr mehr bedeutete, als er dürfte, der wie ein Sohn für sie war – Roven McRae.
In der Umarmung, die er der Menschenfrau gewährte, lag so viel Liebe, dass
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