Seelengrab (German Edition)
Besichtigung des Leichnams, für die sich die beiden Rechtsmediziner zusätzliche Armschützer überstreiften. Kirchhoff, der sich die ganze Zeit über in der Nähe des Stahltisches aufgehalten hatte, zog sich zurück und lehnte sich gegen die Wand. Hirschfeld war nicht sicher, ob sein Partner einen unruhigen Magen hatte oder noch müde von ihrem nächtlichen Einsatz war. Die Anwesenheit bei Obduktionen gehörte zur Routine. Bereits in der Ausbildung wurden sie damit vertraut gemacht. Hirschfeld sagte sich, dass Kirchhoff immerhin nicht protestiert hatte, als er sich für die Leichenschau gemeldet hatte, und schob seine Zurückhaltung auf mangelnden Schlaf.
Steins Assistent legte die Instrumente bereit. Metall schlug auf Metall. Die Studenten wurden unruhig. Sie raschelten mit Eukalyptusbonbonpapierchen, hüstelten mehr als bisher und scharrten mit den Füßen. Die Anspannung war nicht ganz unbegründet. Während sich der Leichengeruch bei der äußeren Besichtigung durch die Kühlung noch in Grenzen hielt, erwartete die Anwesenden spätestens beim Öffnen von Thorax und Abdomen ein einmaliges olfaktorisches Erlebnis. Aus Erfahrung wusste Hirschfeld, dass es wenig Sinn machte, gegen dieses Aroma, wie Ärzte diesen Geruch bezeichneten, anzukämpfen. Je mehr man versuchte, durch den Mund zu atmen, desto unerträglicher wurde die Prozedur auf Dauer.
„Bereit, wenn Sie es sind“, sagte Professor Stein, setzte das Skalpell im oberen Brustbereich an und öffnete den Torso mit einem Y-Schnitt, der zunächst die gelbliche Fettschicht unter der Haut durchtrennte.
Daraufhin klappte er die Hautlappen samt darunterliegendem Gewebe auseinander und begann, die Eingeweide herauszunehmen, damit die anderen Organe nicht mit Fäkalien kontaminiert wurden.
Hirschfeld wechselte seinen Beobachtungsposten. Als er an Beus vorbeiging, wehte ihm auch hier eine Mentholwolke entgegen.
Als Nächstes schnitt der Rechtsmediziner die Rippen mit einer Knochensäge auseinander und entfernte das Brustbein, um Herz, Lungen, Luftröhre und Bronchien freizulegen und zu entnehmen. Weitere Organe folgten. Bevor Westphal diese auf dem Organtisch untersuchte, wurden sie vom Präparator gewogen und gewaschen. Ein Student, froh über die Abwechslung, die sich ihm bot, übernahm den Tafeldienst und schrieb die Daten auf Zuruf mit Kreide hinter die entsprechenden Bezeichnungen. Währenddessen widmete Professor Stein sich dem Gehirn, das er nach einem Schnitt von Ohr zu Ohr hinter dem Scheitel und unter Zuhilfenahme einer weiteren Knochensäge aus dem Schädel beförderte.
Klick. Stein brachte das Memocord wieder zum Einsatz, nachdem er das gelblich graue Gehirn, über das sich ein Blutfilm zog, eingehend inspiziert hatte.
„Venenblut und Urin für eventuelle Alkoholgehaltsbestimmung entnommen – Semikolon – durch die anwesenden Kriminalbeamten in Auftrag gegeben – Punkt – Material für chemisch – Bindestrich – toxikologische Untersuchung – Klammer auf – Herz – Bindestrich – und Venenblut – Komma “, listete er auf und verschaffte sich einen Überblick über die Proben, „Lebergewebe – Komm a – Liquor – Komm a – Mund – Bindestrich – Komma – Vaginal – Bindestrich – und Rektalabstrich – Klammer zu – entnommen – Punkt .“
Gegen 15 Uhr legten Professor Stein und Doktor Westphal schließlich Armschützer und Handschuhe ab. Die Leichenschau hatte gute drei Stunden in Anspruch genommen.
„Was war todesursächlich?“, erkundigte sich Hirschfeld.
Während Kirchhoff sich auf einem Klemmbrett Notizen machte, nähte der Präparator die Leiche mit einer großen Schusternadel wieder zu.
„Eindeutig eine Asphyxie – Atemstillstand“, antwortete Professor Stein, „hervorgerufen durch eine massive Gewalteinwirkung gegen den Hals.“
„Sie wurde also erwürgt“, schlussfolgerte Hirschfeld.
„Richtig“, übernahm Westphal und fuhr sich mit dem Handrücken über seine glänzende Stirn. „Dafür sprechen der Bruch des rechten Zungenbein- und oberen Kehlkopfhorns sowie die zahlreichen, unterschiedlich großen Blutergüsse in sämtlichen Schichten der Halsweichteile und im Bereich der Kehlkopf-, Speiseröhren- und Mundschleimhaut.“
„Sie haben jedoch keinerlei Druckspuren von Fingernägeln gefunden“, warf Kirchhoff ein.
„Das kann zwei Gründe haben“, entgegnete Stein und ließ die Arme vor dem Körper hängen. „Entweder hat der Täter seine Fingernägel nicht in die Halshaut eingedrückt. Oder es
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