Seelengrab (German Edition)
Holz spritzte und den gesamten Tisch in Mitleidenschaft zog. Die Hände seines Vaters waren mit Schamotte verschmiert, das ihm von den Fingern tropfte. Der Ekel stand Heinrich Hirschfeld förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Ist dir eigentlich bewusst, dass ich mitten in einer Mordermittlung stecke?“, erwiderte Hirschfeld mit gesenkter Stimme, nachdem er den Raum durchquert hatte und neben seinem Vater am Werktisch stehen geblieben war. „Du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, um den ich mich kümmern muss.“
Er konnte seine Wut kaum zurückhalten.
„Der Herr Kriminalhauptkommissar, das ist ja wieder typisch für dich“, erwiderte sein Vater beleidigt. „Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen.“
„Das kannst du auch. Aber du willst mir nicht allen Ernstes weismachen, dass du bei ein bisschen Ton gleich in Panik verfällst.“
„Wenn du wüsstest, was diese Dick-Nass uns hier abverlangt“, entgegnete Heinrich Hirschfeld und hob wie zum Beweis seine schmutzigen Hände.
„Nass-Dick“, korrigierte die Ergotherapeutin im Hintergrund.
„Dick-Nass, Nass-Dick – das kommt doch eh aufs Selbe raus“, schimpfte Heinrich Hirschfeld und dachte gar nicht daran, leiser zu sprechen. „Das ganze Theater hier ist die reinste Zumutung, davon konntest du dich ja jetzt selbst überzeugen.“
Lutz Hirschfeld hatte keine Lust auf weitere Diskussionen. Bevor er etwas sagte, was er später bereute, erwiderte er:
„Wir sprechen ein anderes Mal darüber, ich muss jetzt wieder zur Arbeit.“
Damit drehte er sich um und verließ den Werkraum, ohne noch einmal zurückzuschauen.
„Ja, ja, spiel ruhig weiter Detektiv und lass mich allein hier unter all den Bekloppten“, rief ihm sein Vater hinterher.
Doch Hirschfeld war bereits aus der Tür.
19
Das Rechtsmedizinische Institut war in einem fünfstöckigen, mit einer Fassade aus hellem Granit versehenen Gebäude aus den 1960er-Jahren untergebracht und befand sich, fußläufig nur wenige 100 Meter von der Bonner Fußgängerzone entfernt, am Stiftsplatz. Hirschfeld und Kirchhoff betraten den Haupteingang, um diesen Gebäudeteil kurz darauf wieder über einen lang gestreckten Flur zu verlassen, der zur Prosektur führte.
Professor Stein erwartete sie bereits in einem der Sektionssäle, der weiß gekachelt war und über eine große Fensterfront verfügte. Die Temperatur im Raum war deutlich gesenkt und ließ Hirschfeld frösteln.
„Guten Morgen“, begrüßte der Professor die Studenten, die sich in grünen OP-Kitteln vor einem Edelstahlschrank drängten.
Als sie den Gruß in einem monotonen Chor erwiderten, fühlte Hirschfeld sich sofort in seine eigene Studienzeit zurückversetzt. Er konnte nur hoffen, dass es sich bei den Damen und Herren nicht um Erstsemester handelte, die bei ihren ersten Obduktionen reihenweise in Ohnmacht fielen oder – schlimmer noch – ihr Frühstück nicht mehr bei sich behalten konnten.
„Schön, Sie wiederzusehen“, wandte der Professor sich an Hirschfeld und Kirchhoff und reichte ihnen nacheinander den Unterarm.
Über Arztmantel und Hose trug Stein bereits einen grünen OP-Kittel und eine transparente Kunststoffschürze. Auf seiner Nase saß eine Schutzbrille mit einem dunkelblauen Bügel. Über die weißen Einweghandschuhe an seinen Händen hatte er ein zweites Paar blauer gezogen.
„Darf ich vorstellen: Das ist Doktor Frank Westphal“, fuhr Stein fort und deutete auf einen Mann Ende 30.
Der Rechtsmediziner hatte sein hellbraunes, mittellanges Haar zurückgegelt und trug Koteletten, die auf Höhe seines markanten Oberkiefers endeten. Abgesehen von der Schutzkleidung sah Westphal aus, als entspringe er geradewegs einem Remake von Grease.
„Und das ist Lee Hong-in, meine linke Hand“, machte Stein sie mit einem untersetzten Asiaten bekannt.
Bei einer gerichtlichen Obduktion mussten nach der deutschen Strafprozessordnung zwei Ärzte anwesend sein, die von einem Präparator unterstützt wurden.
„Bedienen Sie sich!“, forderte der Professor Hirschfeld und Kirchhoff auf und deutete auf mehrere OP-Kittel, die übereinander an einem Haken an der Wand hingen.
Daneben klebte ein vergilbtes DIN-A4-Blatt. Jemand hatte Leichen sind Menschen wie du und ich, nur tot daraufgeschrieben. Die beiden Kommissare folgten Steins Aufforderung. Als sie die Kittel übergezogen hatten, übergab ihnen Steins Assistent jeweils einen Mundschutz.
„Wie Sie sehen, können wir uns nicht über Nachwuchsmangel beklagen“, sagte
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