Seelengrab (German Edition)
hat sich zum Zeitpunkt der Tötung ein Gegenstand zwischen Hals und Händen befunden wie zum Beispiel ein Blusen- oder Bademantelkragen.“
„Verstehe“, gab Kirchhoff schreibend zurück, ohne von seinen Notizen aufzublicken.
„Wir hatten auch bereits Fälle, in denen das Opfer mittels der Armbeuge erwürgt wurde“, meinte Westphal. „Diese Tötungen verlaufen in der Regel besonders spurenarm.“
„Wurde sie vergewaltigt?“, wollte Hirschfeld als Letztes wissen.
„Nein, soweit ich das zum jetzigen Zeitpunkt beurteilen kann, hat der Täter sie nicht angerührt.“
Hirschfeld verengte nachdenklich die Augen. Das war ein interessantes, jedoch nicht minder beunruhigendes Detail.
20
Lutz Hirschfeld zögerte, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte, um das Haus seiner Eltern in Lengsdorf, einem beschaulichen Bonner Vorort, zu betreten. Der frei stehende Bungalow war in den 1970er-Jahren gebaut worden und verfügte über sechs großzügig geschnittene Zimmer sowie über ein Schwimmbad im Hanggeschoss. Der Eingangsbereich war mit hellen Natursteinplatten ausgelegt und wurde durch eine Lichtkuppel im Dach erhellt. Hirschfeld durchquerte die Diele und öffnete eine Holztür mit Bleiglaselementen, die die Verbindung zum Wohnbereich darstellte.
Hirschfeld hatte nie verstanden, weshalb sein Vater sich für dieses Haus entschieden hatte. Für eine dreiköpfige Familie war es viel zu groß. Wahrscheinlich hatte ihn sein Hang zur Selbstinszenierung zum Kauf verleitet.
Es war Sonntagnachmittag. Seit der Obduktion am Aschermittwoch hatte die Mordkommission ‚Rheinufer‘ keine nennenswerten Fortschritte erzielt. Weder die Auswertung der Handykamera-Aufnahmen noch die Aussagen der Anwohner und des Wirts hatten sie auf eine heiße Spur gebracht. Nicht einmal die Identität der Toten war geklärt, da der Abgleich der Fingerabdrücke keinen Treffer ergeben hatte.
Hirschfeld tippte mit dem Zeigefinger gegen die angelehnte Küchentür, die lautlos aufschwang. Sofort schlug ihm ein säuerlicher Geruch entgegen. Der Kriminalhauptkommissar hatte sich seit seiner Ankunft in Bonn vor dem Anblick gefürchtet, der ihn jetzt erwartete. Als er eintrat, übertraf die Realität seine schlimmsten Vorstellungen:
Auf dem großen Holztisch in der Mitte standen mindestens zwei Dutzend leere Korn- und Wodkaflaschen. Daneben und auf dem Boden verstreut lagen die dazugehörigen Schraubverschlüsse. Im Halbkreis um den Mülleimer herum entdeckte Hirschfeld ein weiteres Flaschenarsenal. Einige Schubladen und Schranktüren der modernen weißen Einbauküche mit den teuren, aber seit dem Tod seiner Mutter ungenutzten Elektrogeräten standen offen. In einem der Fächer war eine Tüte Mehl umgekippt. Der Inhalt hatte sich auf der Anrichte aus Nussbaumholz verteilt und ein paar halb geleerte Rotweingläser mit einer pudrigen weißen Schicht überzogen. In der Mitte des traurigen Stilllebens war deutlich der Abdruck einer Hand zu sehen.
Hirschfeld schauderte. Es machte ganz den Anschein, als hätte sein Vater die Küche verzweifelt nach etwas Alkoholischem durchsucht, als sein Vorrat sich dem Ende geneigt hatte. Hirschfeld schloss Schubladen und Türen und warf einen Blick in den Kühlschrank. Außer einem leeren Sixpack, einer ausgedorrten Zitrone und einem Becher Joghurt, der bereits im letzten Jahr abgelaufen war, befand sich nichts darin. In der Spüle stapelte sich dagegen dreckiges Geschirr. Die eingetrockneten grauen Essensreste darauf gaben keinen Hinweis mehr auf die Mahlzeiten, die Heinrich Hirschfeld zuletzt zu sich genommen hatte. Nach allem, was Lutz bisher zu Gesicht bekommen hatte, ging er davon aus, dass sein Vater sich vor seiner Einlieferung in die Rheinische Landesklinik ohnehin nur noch auf die Aufnahme flüssiger Nahrung beschränkt hatte. Hirschfeld fragte sich, ob sein Vater jemals wieder in der Lage sein würde, dieses Haus zu bewohnen.
Mit einem Gefühl des Ekels verließ er die Küche und ging ins Wohnzimmer, das einen ähnlich tristen Eindruck erweckte. Ein schwarzer Schimmel -Konzertflügel dominierte den ausladenden Raum, der über einen Kamin verfügte. Der Deckel des Instruments war geschlossen. Darauf hatte sein Vater weitere Gläser abgestellt.
„Verdammter Idiot!“
Verärgert zog Lutz Hirschfeld seinen Ulster-Mantel aus und warf ihn über die Lehne der beigefarbenen Ledereckcouch. Dann entfernte er die Gläser, brachte sie in die Küche und kehrte mit einem angefeuchteten Spültuch zurück. Vorsichtig
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