Seelengrab (German Edition)
versuchte er, die Wasserringe, die sich deutlich auf dem schimmernden Lack abzeichneten, zu entfernen. Nach einer Weile ließ Hirschfeld das Tuch sinken. Bei seinem nächsten Besuch durfte er nicht vergessen, eine Politur mitzubringen, um den Schaden einzugrenzen.
Hirschfeld umrundete den Flügel und öffnete die Klappe. Bevor er eine Taste anschlug, glitten seine Finger über die kühle Klaviatur. Als das E ertönte und den Raum mit seinem vollen Ton erfüllte, ließ er seinen Blick zur breiten Fensterfront des Wohnzimmers schweifen, um das Panorama, das sich ihm bot, für einen Moment auf sich wirken zu lassen. Hirschfeld dachte an seine Mutter. Vor seinem inneren Auge kehrte das Bild eines Sommertages zurück, das er tief in seine Erinnerungen eingeschlossen hatte. Seine Mutter trug ein geblümtes blaues Kleid, ihre Haare hatte sie hochgesteckt. Die Fenster des Wohnzimmers waren weit geöffnet. Sie saß am Flügel, selbstversunken, die Augen geschlossen und spielte Beethovens Für Elise, als gäbe sie ein großes Konzert. Als sie Lutz’ Anwesenheit bemerkte, warf sie den Kopf zurück und lachte glockenhell. An diesem Tag war sie glücklich, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Kein halbes Jahr später war sie tot. Jedes Mal, wenn Hirschfeld das Stück hörte, versetzte es ihm einen Stich. Nach all den Jahren vermisste er seine Mutter immer noch schmerzlich, mit jedem Tag mehr.
Das Klingeln seines Handys riss Hirschfeld aus den Gedanken. Die Nummer auf dem Display war lang. Er konnte sich denken, wer ihn anrief.
„Hi, Jo. Wo steckst du?“, begrüßte er seine Schwester.
Wie so oft hatte sie ein Händchen für das richtige Timing.
„Dich kann wohl nichts mehr überraschen, Bruderherz“, klang Johannas Stimme weit entfernt.
„War nicht schwer zu erraten.“
Jo gähnte. Hirschfeld schaute auf seine Armbanduhr. In New York musste es jetzt 10 Uhr morgens sein. Für seine Schwester viel zu früh am Tag.
„Wie geht es dir? Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich, griff in seine Jacketttasche und klopfte eine Zigarette aus der Packung.
„Mach dir um mich keine Sorgen“, antwortete Johanna.
Hirschfeld hörte, wie sie etwas Heißes schlürfte. Kaffee, den seine Schwester zu jeder Tages- und Nachtzeit trank wie Wasser. Dass sie noch keinen Koffeinschock erlitten hatte, grenzte fast an ein medizinisches Wunder.
„NY ist wirklich ein Traum, wir sind jeden Tag auf Achse“, schwärmte sie. „Gestern waren wir im MoMA, heute machen wir eine Hafenrundfahrt und gehen anschließend in den Central Park.“
Hirschfeld widerstand der Frage, wen Jo mit ‚wir‘ meinte. Sie war ohne Begleitung nach New York gereist, hasste es aber, wenn er sie, wie Johanna sich gerne auszudrücken pflegte, wie eine Verdächtige verhörte.
„Du musst unbedingt auch mal herkommen.“
„Sicher“, erwiderte Hirschfeld vage. Sein nächster Urlaub war seit der letzten Woche allerdings in weite Ferne gerückt.
„Was macht die Kunst?“, fragte er und zündete sich die Zigarette an.
„Du meinst den Workshop?“
„Ja.“
Jo hatte im Gegensatz zu Hirschfeld die künstlerische Ader ihrer Mutter geerbt. Sie war im letzten Jahr für das Fach Darstellende Kunst an der Universität der Künste in Berlin angenommen worden. Die Aufnahmeprüfungen waren streng. Unter mehr als 1.000 Bewerbern war Jo nach zwei Vorrunden und der Zulassungsprüfung unter die letzten 20 gekommen und hatte so einen der begehrten Studienplätze ergattert. Trotz dieses Erfolgs hatte Jo genügend Ehrgeiz, sich nicht auf ihrem Talent auszuruhen. Zum Jahreswechsel hatte sie entschieden, sich in den nächsten Semesterferien weiterzubilden. Ihre Wahl war schließlich auf den Big Apple gefallen. Den Schauspiel-Kurs, der ein paar 100 Dollar kostete, hatte Heinrich Hirschfeld seiner Tochter in einem Anfall von Sentimentalität spendiert.
„Zurzeit haben wir Improvisationstraining. Das ist ganz spaßig. Maggie, unser Coach, geht auf die 70 zu. Sie hat mehr Energie als der ganze Kurs zusammen.“
„Klingt gut“, erwiderte Hirschfeld und schnippte die Asche in den Deckel der Zigarettenschachtel. Er bedauerte fast, dass Jo gerade keine feste Rolle einstudierte. Normalerweise hatte sie die Angewohnheit, sich mit ihrem aktuellen Rollennamen ansprechen zu lassen, was in der Vergangenheit bereits zu einiger Erheiterung geführt hatte.
„Wie geht es Papa?“, fragte Jo unvermittelt.
Hirschfeld erzählte ihr von den letzten Besuchen, ließ jedoch den Zustand des Hauses
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