Seelengrab (German Edition)
Hirschfeld setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und konzentrierte sich auf Lena Zimmermann. Unter welchen Umständen war sie verschwunden? Diese Beerdigung, auf der die junge Frau zuletzt gesehen worden war, war bei weitem kein üblicher Rahmen für eine Entführung, dachte er. Dieser Punkt hatte ihn von Anfang an irritiert. Hirschfeld suchte sich den entsprechenden Polizeibericht heraus und überflog ihn. Schließlich blieb sein Blick beim Namen der Verstorbenen hängen: Margot Krämer. Friedlich eingeschlafen in ihrem Bett im Alter von 69 Jahren.
Margot Krämer. Hirschfeld dachte an Winklers seltsame Bemerkung über die Verstorbene. Er wusste etwas über sie, das sie vielleicht auch wissen sollten. Hirschfeld nahm das Telefon auf und benachrichtigte die zuständigen Beamten im Untersuchungsgefängnis, dass er noch einmal mit Winkler sprechen musste.
„Ja, so schnell wie möglich … Gut. Danke.“
Hirschfeld legte den Hörer auf und lehnte sich einen Moment in seinem Stuhl zurück.
„Winkler“, sagte er dann erklärend zu Kirchhoff. „Es gab keine Übereinstimmung beim DNA-Abgleich, aber er war auf der Beerdigung, nach der Lena verschwunden ist. Ich glaube, er verschweigt uns irgendetwas.“
Da er auf Winkler noch eine halbe Stunde warten musste, gab Hirschfeld den Namen ‚Margot Krämer‘ in eine Suchmaschine ein. Über 100.000 Treffer. Das würde ihm nicht weiterhelfen. Er fügte ‚Bonn‘ hinzu. Bereits auf der ersten Seite stieß Hirschfeld auf eine Vierteljahresschrift für Mitbürger im Seniorenalter. Der Jahrgang war älteren Datums. Er öffnete die PDF-Datei und überflog die Artikel. Neben Seiten voller Gedichte, Sinnsprüche, Witze sowie Alters- und Ehejubiläen enthielt die Ausgabe ein Porträt über das Lebenswerk von Margot Krämer, die über Jahrzehnte ein Kinderheim in Siegburg geleitet hatte. Mehrere Schwarz-Weiß-Fotografien illustrierten den Artikel. Auf einem Bild war ein lang gestrecktes Steinhaus zu sehen, an das im Hintergrund eine alte Scheune grenzte. Ein anderes Foto zeigte eine Frau in den 40ern. Ihre dunklen Haare waren streng nach hinten zusammengebunden. Sie trug ein Kleid mit hochgeschlossenem Kragen und war umringt von mindestens zwei Dutzend Kindern, die in einfachen, aber sauberen Kitteln steckten. An den Füßen trugen sie ausgetretene Lederschuhe, die an einigen Stellen geflickt waren.
Hirschfeld gab jetzt den Namen des Kinderheims in die Suchmaske ein. Nach ein paar Minuten stieß er auf mehrere Einträge, die seine Aufmerksamkeit erregten. Margot Krämer war ein paar Jahre vor ihrem Tod mit Vorwürfen der Kindesmisshandlung konfrontiert worden. Ein juristisches Nachspiel hatten diese Anzeigen jedoch nicht gehabt. Die Taten waren längst verjährt.
68
Jörg Winkler war grau im Gesicht und wirkte erschöpft. Die letzen beiden Tage in der Zelle hatten ihm offensichtlich zugesetzt. Als er Lutz Hirschfeld eintreten sah, richtete er sich auf und verzog wütend das Gesicht.
„Was zum Teufel …?“
„Winkler“, schnitt Hirschfeld dem Fotografen das Wort ab und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, „wir haben keine Zeit für Befindlichkeiten. Eine weitere junge Frau ist verschwunden, es geht um Leben und Tod! Also reißen Sie sich zusammen und hören Sie mir zu!“
Winkler starrte ihn unverwandt an.
„Beim Verhör vorgestern, Sie erinnern sich, sprachen Sie von Margot Krämer“, sagte Hirschfeld eindringlich. „Wir wissen, dass sie ein Kinderheim in Siegburg geleitet und aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Schützlinge gequält hat.“
„Aller Wahrscheinlichkeit nach …“, schnaubte Winkler, „Sie haben ja keine Ahnung!“
Er beugte sich vor.
„Diese Frau war eine Sadistin und hat uns die Hölle auf Erden bereitet!“
„Sie haben damals in dem Heim gelebt?“, fragte Hirschfeld leise.
„Ja, ich bin dort aufgewachsen. Und ich war auch unter denjenigen, die Jahre später Anzeige erstattet haben. Leider viel zu spät.“
Winkler sprach jetzt ebenfalls leiser. Seine Stimme klang brüchig.
„Warum haben Sie Lena Zimmermann belästigt?“, wollte Hirschfeld wissen. „Sie war Margot Krämers Großnichte. Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang?“
„Nein“, klang Winkler ehrlich überrascht. „Lena war das genaue Gegenteil von ihrer Großtante. Freundlich, offen, lebenslustig. Ich hatte einfach etwas übrig für die Kleine. Die Zweifarbigkeit ihrer Augen war das Einzige, was die beiden gemeinsam hatten.“
„Margot Krämer hatte
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