Seelengrab (German Edition)
zu viel Respekt oder Furcht vor dieser Person, als dass er ihr selbst schaden könnte. Das Aussehen, bestimmte Verhaltensweisen oder Äußerungen können Auslöser für die Tat sein.“
„Die Aggression wird also auf das Opfer projiziert?“, wollte Hellmann wissen.
„Ja, so könnte man es ausdrücken. Der Täter hat den inneren Konflikt nicht bewältigt. Das Opfer hält als Sündenbock her. Das kann ein bewusster oder unbewusster Vorgang sein. In der Regel agieren diese Täter spontan.“
„Dennoch stellt sich die Frage, ob der Täter gezielt nach seinen Opfern sucht oder ob es sich eher um Zufallsbegegnungen handelt“, meldete sich Kirchhoff zu Wort.
„Da es keine andere Verbindung – wie derselbe Hausarzt als Beispiel – zwischen den jungen Frauen gibt, gehe ich davon aus, dass Täter und Opfer sich zufällig begegnen“, antwortete Hirschfeld. „Lena Zimmermann verschwand auf einer Beerdigungsfeier in Siegburg, Susanne Bach auf einem Supermarktparkplatz in Beuel-Pützchen.“
„Wir müssen in alle Richtungen ermitteln“, stimmte Jens Schröder zu und ließ einen Hustenanfall folgen. „Mit Marie Reichert sind es drei Opfer, von denen wir wissen. Aus diesem Grund sollten wir diesen Ansatz weiterverfolgen. Die Problematik ist allerdings, dass wir keinerlei Kenntnisse über die Hintergründe der Tat haben. Das ist wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“
„Nehmen wir an, Marie ist tatsächlich am Sonntag gekidnappt worden“, entgegnete Hirschfeld, „dann sind bereits drei Tage vergangen. Wenn der Täter seinen Modus operandi nicht ändert, bleiben uns nur noch zwei bis drei Tage, um Marie lebend zu finden.“
66
Hirschfeld lag in T-Shirt und Shorts auf seinem Hotelbett. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und betrachtete die Schatten, die die Möbel an die Wände warfen. Obwohl die letzte Nacht und der anschließende Arbeitstag ihn geschlaucht hatten, fand Hirschfeld keine Ruhe. Um ein Uhr nachts schaltete er schließlich die Nachttischlampe an und stand auf. Nachdem er sich Pullover und Jeans übergezogen hatte, durchsuchte er das Zimmer nach Schreibpapier. Da er keinen Block fand, nahm er die Kopie des Polizeiberichts über seinen Vater vom Beistelltisch. Aus der Innentasche seines Koffers fischte er einen Kugelschreiber und setzte sich vorm Bett im Schneidersitz auf den Boden. Dann öffnete er die Akte, drehte die Blätter ungelesen um und begann, sich Notizen zu machen.
Als Erstes schrieb Hirschfeld die Namen der drei Opfer nebeneinander. Darunter notierte er alle Fakten, die sie bisher über die jungen Frauen gesammelt hatten. Dabei klammerte er ihr Äußeres aus. Es bestand kein Zweifel, dass die Zweifarbigkeit ihrer Augen die einzige Verbindung zwischen den Frauen darstellte. Die Persönlichkeit der drei jungen Opfer und die Umstände ihres Verschwindens interessierten ihn dagegen weit mehr. Lena Zimmermann war das letzte Mal auf einer Beerdigungsfeier gesehen worden. Ebenso wie Marie Reichert war sie nach Aussagen der Eltern ein freundlicher, offener und hilfsbereiter Mensch gewesen. Trotz zahlreicher Zeugenbefragungen, die sich bis in die Abendstunden hingezogen hatten, gab es keinerlei Anhaltspunkte, zu welchem Zeitpunkt genau Lena verschwunden war.
Susanne Bach unterschied sich in ihrem Charakter dagegen deutlich von den anderen beiden Frauen. Sie war übereinstimmend als Einzelgängerin beschrieben worden. Ein Einsiedler in einer WG mit lauter Verrückten. Ungeachtet dessen, dass Hirschfeld Susanne nicht persönlich begegnet war, kam es ihm so vor, als würde er sie kennen. Sie war stark gewesen und hatte einen ausgeprägten Freiheitsdrang gehabt. Susanne zählte nicht zu den religiösen Menschen. In den letzten Stunden vor ihrem Tod, davon war Hirschfeld inzwischen überzeugt, hatte sie in ihrem Gefängnis das Jesus-Medaillon von Lena gefunden und sich die Kette umgelegt. Vielleicht hatte sie darin Trost gefunden, vielleicht wusste sie aber auch, dass sie sterben würde und nicht das einzige Opfer gewesen war. In diesem Fall diente der Anhänger als Hinweis, als letzte Nachricht einer Totgeweihten. Hirschfeld musste an den Bademeister denken, auf den Susanne kurz vor ihrem Verschwinden im Supermarkt getroffen war. Die Abneigung, die Susanne gegen den Mann empfunden haben musste, spürte er fast körperlich. Susanne wäre niemals leichtgläubig zu einem Fremden ins Auto gestiegen. Der Täter musste einen Weg gefunden haben, sich ihr so weit zu nähern,
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