Seelengrab (German Edition)
dass er sie in den Kofferraum ihres Audis stoßen konnte.
Hirschfeld streckte die Glieder aus und stand vom Boden auf. Er umrundete das Bett, griff nach der Zigarettenschachtel und dem Zippo, die auf dem Nachttisch lagen, und kehrte zu seinem Platz zurück. Unter dem Bett zog er eine Coladose hervor, die er als Aschenbecher umfunktioniert hatte. Während er eine Zigarette rauchte, wandte Hirschfeld sich wieder seiner Liste zu.
Nach wenigen Zügen legte er das erste Blatt zur Seite und eröffnete eine neue Kategorie.
„Was wissen wir über den Täter?“, fragte er sich laut und schnippte die Asche in die Dose.
Wenn er mit seiner Theorie richtiglag, erkannte der Täter in den jungen Frauen eine Person wieder, gegen die sich seine Aggression eigentlich richtete. Hirschfeld fühlte sich in diesem Augenblick unvermittelt an die Nubbelverbrennung erinnert, bei dem die Strohpuppe stellvertretend für die Sünden der Jecken auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Auch wenn er nicht Zeuge dieses rheinischen Karnevalsbrauchs geworden war, hatte er die Szenerie deutlich vor Augen. Die toten Frauen, formte sich immer deutlicher der Gedanke in ihm, mussten ebenfalls für das Vergehen einer anderen büßen. Obwohl der Mord, der auf die Tage der Gefangenschaft folgte, in blindem Hass verübt wurde, ging der Täter planvoll vor. Er brachte die Frauen durch irgendeine List in seine Gewalt. Hirschfeld malte sich aus, dass der Täter seine Opfer in ein harmloses Gespräch verwickelte und so ihr Vertrauen gewann. Dann überwältigte er sie und betäubte sie, um die Kontrolle über sie zu behalten. Hirschfeld dachte an die Nacht zu Aschermittwoch zurück, an die Eibensträucher, zwischen denen die beiden ersten Opfer gefunden worden waren, und daran, dass der Täter auf das Gelände des Römerbads eingedrungen war, um die Leichen über den Zaun zu heben. Wenn Hirschfeld es genau betrachtete, stand dies im Widerspruch zu dem Umstand, dass der Täter die Frauen durch GHB gefügig gemacht hatte. Wenn er kräftig genug war, den Zaun zu überwinden, aus welchem Grund flößte er ihnen das Betäubungsmittel ein? War er körperlich doch nicht in der Lage, die Frauen über einen längeren Zeitraum zu dominieren? Oder fand er nur Befriedigung an ihrer Hilflosigkeit? Hirschfeld versuchte sich vorzustellen, welcher inneren Logik der Täter folgte. Die Möglichkeit bestand, dass er selbst einmal die Qual des Ausgeliefertseins zu spüren bekommen hatte. Vielleicht war der Täter selbst einmal ein Opfer gewesen, das sich nicht hatte zur Wehr setzen können.
Hirschfeld ging seine Aufstellung noch einmal durch. Als Letztes fügte er hinzu, dass der Täter keinerlei sexuelle Handlungen an den jungen Frauen vorgenommen hatte. Im Gegenteil, der Täter schien nach dem Mord sogar eine gewisse Fürsorglichkeit für seine Opfer entwickelt zu haben. Er hatte Lena Zimmermann nicht einfach verscharrt, sondern sie auf die Seite gelegt und die Beine so positioniert, dass sie fast wie ein Embryo in ihrem Grab lag. Bei Susanne Bach war der Täter gestört worden. Deshalb hatte er die Leiche nur behelfsmäßig mit Laub bedeckt. Wäre die Tote nicht noch in derselben Nacht entdeckt worden, hätte der Täter sie ebenso sorgsam beerdigt.
Hirschfeld fühlte intuitiv, dass er auf der richtigen Fährte war. Doch ihm war klar, dass er irgendetwas übersah, etwas, das ihn schlaflos machte und die ganze Zeit über in seinem Unterbewusstsein arbeitete. Aus Erfahrung wusste er, dass es keinen Sinn hatte, dies mit aller Gewalt zu erzwingen. Andererseits blieben ihnen nur noch knapp zwei Tage, um Marie zu befreien und sie vor dem sicheren Tod zu bewahren. Hirschfeld zweifelte keine Sekunde, dass der Täter nicht aufhören würde, wenn sie ihn nicht stoppten.
Drei Zigaretten später rappelte er sich auf und griff aufgeregt zum Telefon. Dann wählte er Kirchhoffs Privatnummer. Bereits nach dem ersten Klingelzeichen meldete sich sein Partner.
„Kirchhoff“, war seine Stimme klar und deutlich zu hören.
„Ich bin’s, Lutz. Hab ich dich geweckt?“, fragte Hirschfeld und blickte auf seine Armbanduhr: 2.27 Uhr.
„Nein. Was gibt es?“
„Ich fürchte, wir haben die ganze Zeit über in die falsche Richtung ermittelt!“
„Ich höre.“
Nachdem Hirschfeld das Gespräch beendet hatte, zog er sich an. Der Fall nahm eine neue Wendung. Er musste ins Präsidium.
67
Um Punkt 8 Uhr morgens wählte Hirschfeld die Nummer des Rechtsmedizinischen Instituts. Sofort meldete
Weitere Kostenlose Bücher