Seelenhüter
seinem Fund unter Wasser. Alle ähnelten Tomas: helle Haut und blaue Augen, schwarzes Haar, ein breites Lächeln. Als einer der Jungen Calder den Rücken zuwandte, erinnerte er ihn schmerzhaft an Pincher.
Calder war überrascht, dass sie schon am Abend bei Sonnenuntergang Segel setzten, und fragte nach.
»Für uns ist es egal«, sagte Tomas. »Bei klarem Wetter ist es leichter, den Sternen zu folgen als der Sonne.«
In der Nacht lag Calder wach im Sarg und beobachtete die schlafenden Kinder in dem anderen. Alexis wollte zuerst an Deck schlafen, doch die Gischt hätte den Puder abwaschen können. Beide gaben leise Geräusche von sich, die Calder jedes Mal hochschrecken ließen. Auch wenn der Puder das Glühen verdeckte, schien es von innen an ihnen zu zehren. Nach nur einer Stunde wachten beide erschrocken auf.
»Ich habe von Meerjungfrauen geträumt, aber sie sahen schrecklich aus«, erzählte Alexis.
»Ich habe geträumt, dass ein ganzes Boot voller Menschen neben uns hersegelt«, sagte Ana. »Sie haben gerufen, ich solle zu ihnen hinüberschwimmen.«
Calder hätte nur zu gern die ganze Nacht damit verbracht, gegen die verlorenen Seelen zu kämpfen, wenn er bloß eine funktionierende Waffe gehabt hätte.
»Ich will nicht mehr träumen«, sagte Alexis. »Aber ich bin so müde.«
Ana legte ihrem Bruder eine Extraschicht Puder auf, und Calder setzte sich in seinen Sarg, während die beiden Kinder sich wieder hinlegten, Seite an Seite. Er wünschte, er hätte eine Zauberformel, um Alpträume abzuwehren, doch ihm fiel nur der Kinderpsalm ein. Leise sang er ihn immer wieder, bis die beiden eingeschlafen waren.
Siehe, liebe Seele, hinter dem Mond
Die hellen und offenen Tore
Und dort, über deinem Fenster,
Das wartende goldene Schiff.
Es ist schon spät; sag der Erde auf Wiedersehen.
»Schlaf gut und träume süß«, singen die Sterne.
Breite die Flügel aus und flieg in den Himmel.
* * *
Am nächsten Morgen sagten die beiden, sie hätten friedlich geschlafen, woraufhin Alexis fragte, ob Calder sie jeden Abend in den Schlaf singe. Der Junge wollte eigentlich an Deck bleiben und den Männern helfen, doch das Fieber forderte seinen Tribut. Er schlief die meiste Zeit, zu Anas Erleichterung. Calder nahm an, dass auch sie erschöpft war, doch sie leistete ihm Gesellschaft, wenn er den Jungen in den Schlaf sang und bei ruhiger See an Deck ging.
»Wenn du wach bist«, sagte sie, »will ich auch wach sein.«
Calder machte sich Sorgen, dass sie sich zu wenig ausruhte, doch sie wollte nach der ersten Nacht nicht in Alexis’ Sarg bleiben. Sie legte sich zu Calder, der von hinten die Arme um sie schlang. Als er dachte, sie sei längt eingeschlafen, sprach sie plötzlich.
»Alexis hat Ilja nie gemocht«, sagte sie. »Aber er mag dich.«
Sein Herz machte einen Sprung von brennender Eifersucht zu unbändiger Freude. Er war ein Begleiter. Er sollte stark sein und sich für Ana nur das wünschen, was für sie am besten wäre.
Sie summte leise ein Kirchenlied, während Calder hinter ihr lag und insgeheim dankbar für ihre Schlaflosigkeit war, denn er genoss ihre Gesellschaft, auch wenn sie schwiegen.
* * *
Um wie Sterbliche zu wirken, gaben Calder und die Kinder vor, normal zu essen. Der Seelenhüter hasste es, das wertvolle Essen zu verschwenden, weshalb er mangelnden Appetit vorschob. Ihre Gastgeber waren keine Dummköpfe – sie merkten, dass die drei Passagiere anders waren, und waren zudem abergläubisch wie alle Seeleute. Daher tropften sie vor Beginn der Reise ein bisschen Wein aufs Deck, um Glück für die Fahrt zu erbitten, ein Lederbeutel mit einer Silbermünze darin war an der Mastspitze befestigt, um Schiffbruch abzuwehren, und jeder Mann trug eine Zaunkönigfeder in der Tasche als Schutz vor Ertrinken. Doch die Männer waren auch mit geheimnisvollen Dingen vertraut und empfanden ihre Passagiere nicht als Bedrohung. Sie behandelten sie eher wie Zaubersprüche gegen das Böse und hörten bald auf, ihnen Brot und Wein anzubieten, sondern zogen sie damit auf, versteckte Heilige zu sein.
Calder war am ersten Tag der Reise äußerst aufmerksam und erwartete jeden Moment, eine schwarze Wolke verlorener Seelen neben sich zu sehen, doch alle Wolken wirkten vollkommen normal, und Lukes Pfeifentabak roch süß nach Bratäpfeln und Tannenzapfen. Zum ersten Mal fühlte er die Freuden einer Gemeinschaft mit Tomas und seinen Cousins, die er seit seinem Tausch mit Rasputin so vermisste. Die Erde fühlte sich beinahe
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