Seelenhüter
wie zu Hause an.
Die
Comhartha
segelte dicht an der Küste entlang für den Fall, dass sie angehalten wurden und jemand an Bord kam. Wenn sie von den Feinden entdeckt würden, wollte Tomas einfach behaupten, sie hätten sich verirrt bei der Suche nach einem Ort, wo sie die Toten auf See bestatten könnten.
Die Umgebung veränderte sich ständig, und jede Stunde zog ein neues Land an ihnen vorbei: märchenhafte Hügel mit langen, im Wind wehenden Gräsern, Kliffe mit runden Burgtürmen, pechschwarze Hügel mit Windmühlenumrissen, Berge so spitz wie die ägyptischen Pyramiden.
Ana und Calder setzten sich auf eine Seilrolle unter dem Steuerrad, die von einer schwarzen Decke bedeckt war. Sie bildete eine Art Stuhl, der ihnen gerade genug Platz bot. Calder schirmte Ana mit seinem Körper gegen die Gischt ab, um ihre Puderschicht zu schützen.
Eines Abends zog eine seltsame Wolkenformation an Land auf – riesige graue Trichter über den Hügeln, durch die das Sonnenlicht wie ein großer Fächer strahlte. Calder sah zu, wie Luke und Finn an Segel und Ruder arbeiteten, wie sich ihr dunkles Haar im Nacken kräuselte, und dachte an Pincher und wie er wohl mit richtigem Namen geheißen hatte.
Auf einmal hörte er, leise wie eine Haarlocke, die der Wind über sein Ohr wehte, wie jemand einen Namen flüsterte.
»Hieß einer eurer Vorfahren vielleicht Duggan?«, fragte er die Männer.
»Aber ja«, antwortete Tomas. »Wie der tanzende Junge.«
»Hieß dein kleiner Freund so?«, fragte Finn.
Calder wollte schon sagen: »Ich glaube«, doch dann besann er sich. »Ja.«
»Erinnerst du dich an das Lied vom tanzenden Jungen?«, fragte Tomas Finn, der eine Melodie zu singen begann. Sie war Calder so vertraut, dass sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten.
Ana wachte auf und lauschte.
»Ich habe den Text vergessen«, sagte Finn.
»Irgendetwas von Duggan und einem Hüpfer, wenn er lief«, sagte Tomas. »Er tanzte zum Lied der Meerjungfrauen und stahl dem Teufel die Stiefel von den Füßen.«
Calder schauderte, und Ana fragte: »Was ist los?«
Auch wenn es schier unmöglich zu sein schien, antwortete er leise: »Ich glaube, ich habe dieses Lied geschrieben.«
Da kam ein starker Wind auf, der das Segel flattern ließ und den Wellen Schaumkronen aufsetzte. Als sich ein eiserner Ring vom Mast befreite, rief Tomas Calder zu Hilfe, um das wild um sich schlagende Seil zu bändigen, bevor das Segel Schaden nahm. Als Calder auf den Rand des Bugs trat, bemerkte er eine kleine Gestalt am Heck, einen barfüßigen Jungen, dessen dunkle Locken im Wind wehten.
Dann wurde alles schwarz um ihn. Er konnte noch die Rufe der Männer hören und die salzige Gischt spüren, befand sich jedoch in seiner Kindheit. All die kurzen Eindrücke von den Tagen in London mit Pincher, die er seit seiner Ankunft in der Welt der Lebenden wieder vor Augen gehabt hatte, überschwemmten ihn förmlich und raubten ihm den Atem. Sie waren nur kurze Zeit Freunde gewesen, doch nun erinnerte er sich an alle Abenteuer auf einmal, erst eins nach dem anderen, dann überlappten sie sich wieder, brachten so unvermutet Angst und Freude, dass Calder wie gelähmt war.
Er erinnerte sich, wie er mit Pincher zusammen in ihrem Versteck unter der Brücke lachte, gestohlene Karotten in den Händen, wie sie dem Hund beibrachten, den Kaufleuten die Manschetten abzubeißen, wenn ihnen langweilig war, wie sie Kieselsteine nach den Möwen am Pier warfen. Dann verlangsamten sich alle Bilder auf einmal. Pincher weinte und blutete, weil zwei große Männer ihn traten und schlugen. Calder hörte den Hund bellen und heulen, roch das Blut und spürte, wie ihn die Angst würgte, als er sich umdrehte und durch eine nahe gelegene Wand kroch.
So hatten sie sich sonst immer in Sicherheit gebracht, und bis zu diesem Tag war Pincher Calder immer voraus gewesen. Er kroch durch das Loch in der Absperrung beim Marktplatz, an einer niedrigen Wand entlang und über die Straße der Kaufleute, unter dem Friedhofstor hindurch, um dann durch eine Lücke in der alten Friedhofsmauer zu schlüpfen, doch Pincher war nicht vor ihm. Er drehte sich um und blickte zurück, während er über den Friedhof hastete. Er dachte, er hätte Pincher hinter sich atmen gehört, aber sein Freund war nirgends zu sehen. Als er an ihrem Treffpunkt unter der Brücke ankam, war er allein. Er blieb zitternd stehen und hoffte, dass Pincher zurückkommen würde. Schon bald kam der Hund um die Ecke getrottet, mit Blut im Fell
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