Seelenhüter
und einem eingerissenen Ohr. Die bemitleidenswerte Kreatur kletterte auf Calders Schoß und verließ ihn danach nie wieder. Da wusste er, dass sein Freund tot war – der Hund hätte ihn nie zurückgelassen. »Komm zurück zu mir«, flehte er weinend. »Du kannst mich doch hier nicht alleinlassen.«
Die Erinnerungen an seine Kindheit überschlugen sich und rasten schmerzvoll ungeordnet bis zu seinem Tod an ihm vorbei. Dann verlangsamte sich alles ein zweites Mal, er lag auf der Seite auf dem mitternächtlichen Dock, durchnässt, frierend und allein. Zwar spürte er eine Präsenz in der Nähe, konnte jedoch niemanden erkennen und hatte auch nicht die Kraft, sich genauer umzusehen.
Calder hörte, wie Tomas ihm etwas zurief. Ein Schlag vor die Brust ließ ihn straucheln, und schon fiel er ins Meer. Etwas Kaltes und Rauhes glitt so rasch durch seine Hand, dass es ihm die Haut verbrannte. Rasch packte er das Seil, bevor es ihm ganz entglitten war. Das Meer wirbelte Calder herum wie ein Kinderspielzeug und warf ihn gegen den Bootsrumpf, wobei er sich den Kopf hart anschlug.
Calder sah die Szenen aus seiner Kindheit noch einmal, nur dass er sich diesmal selbst von außen beobachtete, durch die Augen von Pincher. Wieder stahlen sie Karotten, spielten mit dem Hund, und dann lag er auf dem Boden, wurde von den Männern getreten, sah Calder durch das Loch in der Mauer verschwinden. Pincher trat aus seinem Körper heraus und folgte seinem Freund bis zu einer Straße, wo ein Wagen so dicht an ihm vorbeifuhr, dass er ihm geradewegs durch die Schulter zu rattern schien. Als sich Pincher unter dem Friedhofstor hindurchzwängte, öffnete sich eine Tür zu seiner Rechten, und eine Gestalt trat hervor, doch er lief zwischen den Grabsteinen hindurch bis zu der Brücke, wo er seinen Freund fand.
»Komm zurück zu mir«, schluchzte Calder.
»Ich bin doch da«, antwortete Pincher, und der Hund blickte zu ihm auf.
»Du kannst mich doch hier nicht alleinlassen«, flehte Calder.
Pincher versprach: »Das werde ich auch nicht.«
* * *
Als Calder die Augen aufschlug, saß er auf der
Comhartha Ó Dia,
wo er immer saß, allerdings ohne Ana. Auch von den anderen war niemand mehr an Bord. Als er den Ozean durch das durchsichtige Schiff erblickte, verkrampfte sich sein Magen. Er fixierte das Deck unter sich, bis es sich zu festem braunem Holz formte. Er hob den Kopf und starrte auf den dunkelhaarigen Jungen, der barfuß, die Hände in die Hüften gestemmt, im Bug stand.
32.
E ine Seilrolle hing Pincher über die Schulter, und seine blauen Augen lächelten.
Das hier war die verlorene Seele, die Calder zu Lebzeiten gekannt hatte.
»Du warst lange weg«, sagte Pincher.
»Ja.« Calder bewegte sich nicht, aus Angst, ihn zu verschrecken.
Himmel und Meer waren von demselben tiefen Eisenblau. Der Wind wehte lau, die Wellen schlugen gemächlich, als ob der Ozean ein schlafendes Untier wäre, dessen großer Leib mit jedem stummen Atemzug anschwoll und seufzte. Calder wurde schmerzhaft bewusst, wie lange Pincher herumgewandert war – er hatte die letzten dreihundert Jahre auf der Passage mit dem Captain verbracht, während Pincher dieselbe Zeit unter den Verlorenen geweilt hatte.
»Erinnerst du dich, wie ich dich gebeten habe, mich niemals zu verlassen?«, fragte Calder. Er wusste, dass kein Sterblicher die Macht hatte, einen sterbenden Geist in das Land der verlorenen Seelen zu zwingen, dennoch fühlte er sich schuldig, dass er Pincher darum gebeten hatte.
»Ja«, antwortete Pincher. »Aber du hast mich zurückgelassen.«
Calder erinnerte sich an das Gefühl, bei seinem Tod beobachtet zu werden. »Als ich gestorben bin?«, fragte er.
»Danach bin ich losgegangen und habe mein Boot gefunden«, sagte Pincher.
»Erinnerst du dich an den Tag, an dem du versprochen hast, mich nicht zu verlassen?«, fragte Calder.
Pincher nickte.
»Hast du da eine Tür gesehen, die da vorher nicht war?«
»Du meinst die auf dem Friedhof?«
»Warum bist du vor ihr weggelaufen?«, fragte Calder.
»Ein Teufel kam heraus, er wollte uns fangen.«
Calder hätte ihn am liebsten umarmt, stattdessen lächelte er.
Pincher sprang vom Bug und humpelte auf ihn zu. »Ich habe mich verlaufen«, gab er zu. »Das ist mein Boot, ich weiß es. Aber ich kann meinen Pa nicht finden. Und diese Teufel hören nicht auf, mich zu verfolgen.«
»Wir sind immer noch Freunde, oder?«, fragte Calder.
Pincher nickte.
»Ich werde dir ein Geheimnis verraten«, flüsterte er.
Sein
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